Die Göttin im Stein
Sein schlanker Körper, der neben den wuchtigen Männern der Dala und Koa beinahe zerbrechlich wirkte. Seine feingliedrigen Hände, von denen sie sich kaum vorstellen konnte, daß sie das Beil handhabten und den Pflug führten.
Ja, gefallen hatte er ihr. Aber erst, als sie ihn Flöte spielen und singen gehört hatte, hatte sie ihn zu lieben begonnen. Niemals hatte sie eine Musik gehört wie seine. Während sie ihr gelauscht hatte, hatte sie die Nebel über dem Moor, den Rauhreif auf den Zweigen und das klare Wasser des Baches über bemoosten Steinen gesehen, hatte den Himmel sich färben und den Mond aufgehen sehen, das Herbstlaub leuchten und die Blumen blühen. Und als er die Flöte weggelegt und ihr zugelächelt hatte, da hatte sie geahnt, nur ihn lieben zu können, niemals einen anderen als ihn.
Aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen.
Ich muß ihn vergessen. Er ist kein Koa. Er kommt aus einem Dorf neun Wegstunden von hier. Er kann nicht mein Mann werden.
Und ich bin Taku versprochen.
Heftig schlug sie das nasse Wäschestück auf den Stein am Bachufer. Das kalte Wasser spritzte ihr ins Gesicht.
»Kann ich dir helfen, Haibe?«
Ameisen kribbeln in ihrem Bauch. Sie hatte gedacht, Zirrkan sei schon zum Nachbardorf aufgebrochen. Hierher zum Bach war sie geflohen, um nicht Abschied nehmen zu müssen.
Sie drehte sich um. »Wenn du unbedingt willst, kannst du das Laken mit mir auswringen!«
»Unbedingt!« Er lachte.
Sie drehten das nasse Leintuch zwischen sich zu einem dicken Seil. Erst schoß das Wasser heraus, dann tropfte es nur noch. Je fester sie wanden, desto näher kamen sie aufeinander zu. Kein Tropfen ließ sich mehr herausquetschen. Sie zwirbelten die Tuchrolle zu einem festen Knoten.
Sein Gesicht dicht vor ihrem.
Mit einer Hand ließ sie das Wäschestück los. Strich Zirrkan über die widerspenstigen Haare.
Erst hielt er sehr still, dann reckte er den Kopf so, daß ihre Hand an seine Wange glitt.
Er ließ das Wäschestück los, naß und kalt schlug es ihr an die Beine, sie ließ es einfach zu Boden fallen. Mit der Linken hatte er ihr Handgelenk umfaßt, mit der Rechten streichelte er über ihr Haar. Er zog ihre Hand an seinen Mund, liebkoste ihre Handfläche mit seinen Lippen. Sie schloß die Augen vor der Stärke dieses Gefühls.
Sie legte den freien Arm um ihn, fand seinen Nacken.
Mit den Fingerspitzen fuhr er den Umriß ihrer Lippen nach.
Dann beugte er sich vor. Nahm ihr Gesicht in beide Hände, unendlich vorsichtig, als sei es eine zerbrechliche Kostbarkeit. Sie wartete, hoffte.
Doch plötzlich machte sie sich von ihm los, bückte sich, hob das Leintuch auf und warf es zurück ins Wasser.
»Nein?« fragte er sehr leise.
»Nein!« erwiderte sie heftig.
»Du kannst es nicht ändern, Haibe. Es steht in den Sternen.«
»Ach ja? Bist du ein Sterndeuter?!«
»Das nicht. Aber ich spür' es. Du nicht?«
Ich bin Haibe, älteste Tochter der Dala. Ich werde Sippenmutter sein nach meiner Mutter. Und den Bund mit den Koa erneuern.
»Ich spür', daß es Zeit für dich wird zu gehen!« erwiderte sie spröde.
Er drehte sich wortlos um und ging.
Sie weinte.
Haibe barg das Gesicht in den Händen. Ach Zirrkan, du hattest ja recht: Es stand in den Sternen.
Aber ich war die Tochter meiner Mutter. Ich habe meine Pflicht getan.
Ich habe es dir nie erzählt: Am gleichen Tag noch habe ich Takus Drängen nachgegeben und mich mit ihm im Speicher getroffen.
Würde dich das kränken, wenn du es wüßtest? Das müßte es nicht.
Taku hat sich redlich Mühe gegeben. Er war sanft und zärtlich trotz seiner schwieligen Hände. Aber ich habe nichts dabei empfunden.
Auch nicht beim zweiten und beim dritten und beim vierten Mal. Fast war ich erleichtert, als der Monat der Enthaltsamkeit vor dem Heiligen Fest begann.
Das Heilige Fest, von den Priesterinnen durch den Lauf der Gestirne bestimmt, gefeiert an dem Tag, an dem nach neun Jahren wieder das Neumondlicht am Fest der Heiligen Hochzeit erschien – Verheißung der großen Fruchtbarkeit für die neuen Felder, die die Männer in den vergangenen Monaten mit harter Arbeit dem Wald abgetrotzt oder die sie nach neunjähriger Brache vom Gestrüpp befreit hatten.
Seit Sonnenaufgang waren sie unterwegs, alle Männer, Frauen und Kinder des Dorfes, und es wurden immer mehr Menschen. Schon vier Dorfgemeinschaften waren es nun, die dem Ort der Heiligen Steine zustrebten – mit noch weiteren würden sie zusammentreffen. Seit neun Jahren hatte Haibe nicht mehr so
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