Die Göttin im Stein
umarmt mich, zieht mich an sich. Seine schmalen Hände in meinem Haar. Seine weichen
Lippen
auf meinen Lidern.
Es ist wie eine Musik von ungeahnter Herrlichkeit. Töne offenbaren sich in Farben, überfluten mich. Mein ganzer Körper verwandelt sich. In leuchtende Musik, in klingende Farben, in tönendes Licht.
»Zirrkan«, flüstere ich, doch er verschließt meine Lippen mit seinem Mund.
Wie sehr ich mich nach seinen Lippen gesehnt habe.
Zart streicht sein Finger über meine Handfläche. Ich zerberste.
Er und ich. Keine Zeit mehr, kein Raum.
Am Himmel sind wir zwischen den Sternen.
Wir drängen zueinander, wir zittern beide und finden Halt im andern.
Er kniet vor mir nieder. Ich drücke seinen Kopf in meinen Schoß.
Und fühle mich weit und schön und groß.
Auf meinem Mantel, unter seinem Mantel, dringt er ein in mich.
Zirrkan, Zirrkan. Geliebter.
Ausgelöscht die Erinnerung an Taku, nichts ist so wie mit ihm. Zirrkan ist mein Mann, mein einziger.
Wir verlieren uns im Glück und finden uns im andern.
Wieder umfängt er mich. Ich bin geborgen in der Rundung, die sein Körper mir bereitet. Ich spüre mein Herz gegen seine Finger pochen.
Alles, was ich bin, fließt in ihn. Alles, was er ist, durchdringt mich.
Um uns herum bilden sich im Dunkel der Nacht immer neue Paare, vollziehen die Heilige Hochzeit nach – der Göttin zu Ehren.
Doch wir, er und ich, wir lieben.
Haibe wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann richtete sie sich auf. Was tat sie hier! Sie träumte der Vergangenheit nach und sollte sich doch lieber auf ihre Aufgabe vorbereiten! Statt sich nach Zirrkan zu sehnen, sollte sie versuchen die Steine zu erweichen.
Es galt, die Verbindung zu den Müttern und Ahnen zu finden. Es galt, Regen herbeizuflehen. Es galt, eine Hungersnot abzuwenden.
Sie begann zu beten, murmelte halblaut alle Anrufungen, die ihr in den Sinn kamen. Doch sie spürte die Nähe der Göttin nicht, und immer wieder glitten ihre Gedanken ab. Sie hatte es ja geahnt: Sie war nicht berufen.
Schließlich – wie weit mochte der Tag inzwischen fortgeschritten sein? – tastete sie mit vorgestreckter Hand nach der Wand und bewegte sich auf Knien darauf zu. Sie stieß gegen etwas Hartes: ein Tonbecher. Sie hörte, wie er umfiel, in Scherben zerbarst. Ein Knochen kollerte davon, höhnisches Keckern.
Dann kniete Haibe dicht an einem großen Trägerstein. Sie breitete die Arme aus: Mit Mühe konnte sie seine Vorderseite umfangen, von Fuge zu Fuge. Sie drückte sich an ihn, um-schloß seine leichte Rundung mit ihrem Körper, streichelte die glatte Fläche und legte ihre Wange an den kalten Stein. »Mutter«, flüsterte sie. »Mutter, hörst du mich? Mutter, wende dich mir zu! Hilf mir!«
Da war nichts, keine Zuwendung, keine Hilfe. Nur Härte. So wie damals, vor vielen Jahren ...
»Mutter«, flüsterte Haibe und umarmte ihre Mutter, »bitte hilf mir! Ich kann nicht leben ohne ihn!«
Der Körper der Mutter verhärtete sich. »Nicht leben ohne ihn?« wiederholte die Mutter. »Du kannst nicht leben mit ihm!«
Haibe ließ die Arme sinken, zuckte zurück.
Warum verstand die Mutter es nicht, da sie doch sonst alles verstanden hatte?
Am Morgen nach dem Heiligen Fest hatte das Entsetzen Haibe die Kehle zugeschnürt: Was habe ich getan, ich habe das Fest entweiht, statt die Heilige Hochzeit zu feiern, habe ich mich in der Liebe verloren, die Göttin wird uns alle dafür strafen! Sie hatte darüber sprechen müssen, unmöglich, diese Schuld allein zu ertragen, weinend hatte sie alles der Mutter erzählt. Und die Mutter hatte sie in die Arme genommen: Die Liebe ist eine Gabe der Göttin. Wenn es der Göttin gefallen hat, dich an ihrem Heiligen Fest die Liebe erfahren zu lassen, weshalb sollte sie dir deshalb zürnen? Hab keine Angst, meine Tochter. Freu dich daran. Und da es nun einmal so gekommen ist – genieße diese Feiertage mit deinem Zirrkan. Aber vergiß nicht, daß du bald Taku zum Mann nehmen mußt!
Wie hätte sie an Taku denken sollen, da sie doch Zirrkan liebte!
»Ohne Zirrkan bin ich nur ein zerbrochenes Gefäß«, sagte Haibe leise, »ein Scherbenhaufen!«
»Ach, Haibe!« erwiderte die Mutter. »Du bist verliebt. Jede von uns versteht das! Aber Verliebtheit ist eine Sache und Heirat eine andere. Du hast die Freuden der Liebe kennengelernt, nun lernst du den Schmerz. Nur für kleine Kinder hält das Leben Geschenke bereit – umsonst. Du aber bist kein kleines Kind mehr. Für alles, was du bekommst, mußt du
Weitere Kostenlose Bücher