Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
Vom Netzwerk:
nickte ängstlich fragend und versuchte ein Lächeln, das kläglich mißlang.
    Verzweiflung stieg in ihm auf. Nein, er wollte sie nicht verlieren. Es mußte einen anderen Weg geben.
    Noch fester griff er ihre Arme. »Aber ich gebe dich nicht frei! Du gehörst mir! Nur an meinem Hof kann ich dich nicht mehr dulden! Zu den Bauern hinter dem Schwarzmoor werde ich dich geben, zu dieser Daire. Dort wirst du in Zukunft leben, und wenn ich es möchte, wirst du mir zu Willen sein, nur mir, hast du gehört, mir allein!«
    Er ließ sie los. Sie weinte, kniete vor ihm nieder, ergriff seine Hände und küßte sie.
    Und sein ganzer Aufruhr legte sich.
    Er zog sie hoch, nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust.
     

7
    O Göttin, ich ertrage es nicht. Nimm mich zu dir.
    Wirrkon, Karu, Rablu, Aktoll, Li, Taku – alle tot.
    Weiße Mutter, Eulenfrau, laß mich deinen Ruf hören! Ich bin es, Haibe, Sippenmutter der toten Dala, die nach dir schreit.
    Ich weiß, ich habe dich angefleht, mich ans Leben zurückzusenden.
    Ich wußte nicht, was ich tat.
    Jetzt aber weiß ich es: Ich kann nicht leben mit diesen Bildern vor meinen Augen.
    »Haibe, Schwester, hörst du mich?«
    »Haibe, Schwester, hörst du mich?«
    Ritgos Stimme, fern und verzerrt, wie von Nebel verschluckt. Mühsam öffnete sie die Augen.
    »Schwester, ich brauche deine Hilfe.«
    Die Augen fielen ihr wieder zu.
    Er richtete sie auf. »Haibe, du warst zu lange im Grab eingeschlossen, es war ja keiner im Dorf mehr am Leben, der dich hätte befreien können, und ich kam fast zu spät, ich weiß, du bist sehr krank, aber du mußt aufstehen, unsere Toten . .«, seine Stimme zitterte. »Du mußt die Totenlieder singen, es ist keine Frau da außer dir, die sie singen . . .« Seine Stimme brach.
    Ich habe das heilige Feuer angezündet. Aber du mußt singen! Wenigstens die Lieder sollen sie geleiten!«
    Auf den Knien rutschte sie in den Gang.
    Was sollte sie hier? Es war das falsche Grab, das neue. Hier ruhten nicht die Mütter und Ahnen.
    Mütter, ich wollte mit euch sprechen .
    Sie kroch zur Schwelle. Im Grab loderten Fackeln und das heilige Feuer.
    Dann sah sie –
    Die toten Körper füllten rechts und links vom Eingang das ganze Grab. Dicht an dicht lagen sie auf dem Boden, bedeckten das Steinpflaster, der Platz reichte nicht aus, in einer zweiten und einer dritten Lage waren die Toten darüber gestapelt, Leere in ihrem Kopf, kein Begreifen. Wie Holz, dachte sie, wie Holz für den Winter.
    Doch da – Karu.
    Und die Wahrheit kam über sie.
    Karu, ihr Sohn.
    Sein Schädel war eingeschlagen, Reste von Blut und Hirn, zu einer furchtbaren Masse verkrustet, klebten in seinem Haar . . .
    »Haibe, ich rede mit dir, warum antwortest du nicht?« Ritgos Stimme, fern und verzerrt, wie von Nebel verschluckt. Laß mich. Ich will nicht.
    Er rüttelte sie an der Schulter, schrie sie an: »Ich ertrag' es nicht länger, daß du so starr und teilnahmslos bist! Dafür hab' ich dich nicht aus dem Grab geholt, daß du nun toter bist als eine Tote! Ich weiß, das Grauen übersteigt jedes Maß! Aber du lebst!«
    Ich lebe nicht, Bruder.
    Alles Leben habe ich verloren in dem Augenblick, in dem ich Karu sah. Und Wirrkon. Und Rablu.
    Ich war nicht bei meinen Söhnen, als sie starben.
    Der Bruder hob sie auf die Arme, trug sie. Ihr Kopf sank an seine Schulter.
    Sie hatte sich im Schnee verirrt. Der Große Oheim hatte geschimpft, weil sie nicht die Suppe gekocht hatte, mit Mulai hatte sie auf dem Zwischenboden gespielt und gar nicht auf die Zeit geachtet, böse war der Oheim geworden. Wir können keine Tochter brauchen, die über dem Spielen ihre Pflichten vergißt, hatte er gesagt, und da war sie aus dem Haus gegangen und aus dem Dorf, immer weiter durch den tiefen Schnee, ihre Beine wurden müde, sie fror, sie hatte keinen Mantel an, wenn sie tot war, dann würde der Oheim weinen, leid würde es dem Oheim tun. Es schneite plötzlich, wo war das Dorf, sie wollte heim, sie konnte den Weg nicht mehr finden, Mutter, ich will zu dir, sie sank in eine Schneewehe ein, schlafen, ich bin so müde, Mutter . . . Da war der Große Oheim da, hob sie auf, wickelte sie in seinen Mantel, trug sie heim. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Du dummes Kind, sagte er, wenn ich mit dir schimpfe, mußt du doch nicht weglaufen, mach das nie wieder, hörst du, wenn ich dich nicht gefunden hätte, wärst du erfroren, du dummes, dummes liebes Kind!
    »Nie wieder«, flüsterte sie heiser.
    »Nein«, sagte Ritgo,

Weitere Kostenlose Bücher