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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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»nie wieder. Ich habe es geschworen. Nie wieder soll so etwas geschehen wie hier!«
    Verwirrt sah sie ihn an. War da nicht eben der Große Oheim gewesen?
    Vor dem Eingang zum Grab setzte er sie ab. »Da hinein kann ich dich nicht tragen, es ist zu eng. Schaffst du es, Haibe? Ich habe alle unsere Toten ins Grab gebracht. Es war mir unmöglich, ihre Gebeine vorzubereiten, viel zuviel Tote, und keiner, der mir helfen konnte, unsere Nachbardörfer sind ausgelöscht wie unseres, keine Menschenseele weit und breit, nur du und ich, die Göttin wird sie auch so zur Wiedergeburt in ihren Schoß aufnehmen, o Haibe –
    Nicht bei Karu, nicht bei Wirrkon. Und nicht bei meinem kleinen Rablu.
    Er hat nach mir geschrien, ich höre es, Mutter, hat er geschrien, Mutter, hilf mir, und dann schlossen sich die Hände um seinen Hals, und ich war nicht da.
    »Wir hätten es ahnen müssen, du und ich, Ritgo«, sagte sie in den Rücken ihres Bruders hinein, »die Göttin hat uns ein Zeichen gegeben, der Bach war ausgetrocknet, wir hätten daran denken müssen, daß es wieder geschehen könnte, daß es unserem Dorf so ergehen könnte wie Zirrkans.«
    Er drehte sich zu ihr um. Seine Augen waren dunkel vor Trauer, sein Gesicht kantig und fremd. »Meinst du, ich sage mir das nicht selber, Tag für Tag, Nacht für Nacht?« brach es aus ihm heraus. »Meinst du, ich gäbe nicht alles darum, das Rad der Zeit anhalten zu können, das Verhängnis zu verhindern? Mich verfolgen die Erinnerungen nicht weniger als dich! Ich war es, der die verkohlten Leiber unter den schwelenden Trümmern hervorgeholt hat, ich war es, der den Toten das Blut abgewaschen und die Pfeile aus der Brust gezogen hat!
    Bei jedem Toten, den ich in meinen Armen ins Grab getragen habe, habe ich meinen Schwur erneuert: Nie wieder sollen diese Wölfe ein friedliches Dorf überfallen, nie wieder schlafende Männer und ahnungslose Kinder niedermetzeln, nie wieder Frauen und Mädchen entführen, nie wieder!«
    Nie wieder?
    Was soll mir das, Bruder?
    Was geschehen ist, das ist geschehen.
    Große Bärin, wir sind deine Kinder, warum läßt du zu, daß wir so blind sind?
    Karu, sein Gesicht –
    Eule, hörst du mich nicht?
    »Was hast du gesagt, Ritgo?«
    »Nichts«, erwiderte er voll Bitterkeit. »Du hörst mir ja doch nicht zu!«
    Stumpf schleppte sie sich hinter ihm her, mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt. Der Regen strömte auf sie, durchdrang den Binsenhut. Der Kopf schmerzte, der Rücken schmerzte, die Gelenke schmerzten. Schwer lastete der nasse Vliesmantel. Schwerer lastete die Verzweiflung.
    Warum ging sie hier?
    Sie wußte es nicht mehr. Ritgo war es, der sie auf diesen Marsch mitgenommen hatte.
    Als käme es jetzt noch darauf an, wo man war, wohin man ging – und mit wem.
    Wenn sie die Hand ausstreckte, schien sie ihn berühren zu können, seinen breiten, starken Rücken, der ihr immer so verläßlich erschienen war: ein unerschütterlicher Fels.
    Wenn sie die Hand ausstreckte, stieße sie an jene unsichtbare Wand, die sie umschloß.
    Die Wand, die sie von allem trennte, was lebendig war, die sie einschloß mit ihren Toten.
    Die Wand, die sie gefangenhielt, die sich nachts auf sie senkte und ihr den Atem nahm.
    Die Wand, die Worte sprachlos machte und Farben grau, die ihre eigenen Schreie verschluckte im Abgrund der Tonlosigkeit.
    Rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß.
    Wirrkon – erschossen. Eulengöttin, erlöse mich.
    Mein kleiner Rablu – sein Gesicht blau und verzerrt, dunkle Male an seinem Hals. Weiße Frau, haß den wütenden Eber frei, laß ihn über mich kommen.
    Und Naki
    Da war das Bild wieder da, der Zug der gefesselten Frauen, gebückt unter schweren Körben, und ihre eigenen Worte: Laß mich zurück, ich muß Naki helfen!
    Die Wand kam näher, von allen Seiten lastete sie auf ihr. Naki, wo bist du? Was mußt du erleiden?
    Meine Tochter in der Gewalt der Söhne des Himmels, weh los in den rohen Händen eines Wolfes von einem Mann –Besser wäre dir, du wärst tot.
    Ich bin unfähig, dich zu retten.
    Ich habe keine Kraft mehr.
    Alles, was an Kraft in mir war, ist mit dem Blut meiner Söhne versiegt.
    Die anderen Frauen spannen.
    Unermüdlich zupften sie Wolle vom Spinnrocken, ließe die Spindeln tanzen, zwirbelten den Faden und wickelten ihn auf.
    Haibe, in sich zusammengefallen, die Hände um die Bern steinkette der Mutter geschlossen, spann nicht.
    Unermüdlich sprachen die Frauen miteinander, drehten und wendeten Rede und Gegenrede, wogen das Für

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