Die Göttin im Stein
sich rasch mit einer Knochennadel in den Finger, preßte ein paar Blutstropfen hervor und ließ sie auf die Ofenplatte fallen. »Herdmutter«, flüsterte sie, »besänftige den Feuergott! Laß meine Kuchen nicht verbrennen, ich bitte dich!«
Feinstes, fünfzehnmal gemahlenes und gesiebtes Weizenmehl – was für ein Jammer um die ganze Arbeit, wenn die Kuchen nicht gelingen würden!
Sie steckte den Finger in den Mund, leckte das Blut ab. Doch wenn sie gut würden ...
Als sie zum ersten Mal für Lykos einen solchen Kuchen gebacken hatte, hatte er sich ein Stück davon achtlos in den Mund geschoben wie das meiste, was er aß. Doch dann hatte er erstaunt innegehalten – sie hatte ihm eben Tee eingeschenkt – und gesagt: »Was ist das? Das schmeckt gut!«
Damals hatte sie die Höhlung, die der Stein im Kuchen hinterließ, mit Preiselbeermus gefüllt. Heute würde sie es mit einer Mischung aus gekochten Moosbeeren und schaumig gerührter saurer Sahne versuchen.
Vielleicht konnte sie Lykos damit wieder überraschen ... Sie lächelte.
Rasch ging sie im Geist noch einmal die Speisenfolge durch: gebratenes Rebhuhn, Ackerbohnen, Lammschmorbraten mit frischem Brot, Kuchen.
Ob Lykos heute Freunde mitbrachte? Ackerbohnen, Lamm, Brot und Kuchen würden auch für Gäste reichen. Aber das Rebhuhn ...
Sie saugte an ihrem Finger.
Wie sollte man Ehre einlegen, wenn man nicht vorher wußte, ob man Gäste zu bewirten hatte!
Sie würde das Rebhuhn weglassen müssen und statt dessen Pökelfleisch mit der Grütze auftragen, die vom Morgenmahl übrig war.
Nein! Kein Pökelfleisch mit Grütze. Da merkte doch jeder, daß sie nicht auf Gäste vorbereitet war!
»O
Himmel! Nicht heute, nicht jetzt!«
Das Gesicht der Mutter, bleich vor Erschrecken, als der Vater mit einer großen Schar von Herren in den Hof ritt.
»Rösos! Und so viele Gäste! Kein Fisch, kein frisches Fleisch, was soll ich tun, Cythia, rasch – Moria, geh mir aus dem Weg!«
Sie, die kleine Moria, drückte sich an die Wand, kroch hinter den Backofen, streichelte den Welpen, sah zu, wie die Mutter und Cythia, die Nebenfrau und die Magd mit fieberhafter Eile versuchten, ein Mahl zu bereiten.
Der Raum summte vor Erregung. Und die Stimme der Mutter schrill, voll Angst.
Sie drückte den Welpen an sich.
Der Tag war so schön gewesen: Die Binsen auf dem Boden des Wohnhauses waren gewechselt worden, und sie hatte aus den alten Binsen ein Feuer schüren dürfen. Alle Kleider und Teppiche waren gewaschen worden, und sie hatte mit den anderen Kindern im Bach gespielt und die nassen Stoffe zum Trocknen auf die Wiese gebreitet, und die Frauen hatten so viel Arbeit gehabt, daß keine bemerkt hatte, wie sie ohne Erlaubnis kurz mal zu Wai gerannt war. Keine außer Cythia, und die verriet sie nie. Zu essen hatte es heute nicht viel gegeben – nur Grütze, doch das war gleich, bei so viel Freiheit.
Und nun plötzlich alles verändert.
Wäre der Vater doch weggeblieben . . . Die Mutter hatte so Angst!
Der Finger rutschte von selbst in den Mund. Sie saugte daran, doch keiner merkte es, keiner verwehrte es ihr.
Schwer wurde ihr Kopf. Der kleine Welpe schlief in ihrem Schoß.
Schließlich schlief auch sie ein.
Irgendwann in der Nacht wachte sie auf. Der Welpe hatte auf ihr Kleid gepinkelt. Doch das war es nicht, was sie weckte.
Das scharfe Klatschen – der Gürtel des Vaters.
Übelkeit würgte sie. Sie preßte die Hand an den Mund.
Die zornige Stimme des Vaters: »Habe ich dir nicht gesagt, du hast jederzeit in der Lage zu sein, ein Gastmahl aufzutragen, jederzeit?«
Klatsch.
Die Stimme der Mutter, schluchzend, gequält, kaum zu erkennen:
»Ja, Rösos. Jederzeit.«
»Und heute, war das ein Gastmahl?«
Klatsch.
»Nein, nein, das war kein Gastmahl!«
Klatsch.
»Pökelfleisch und alte Grütze!«
Klatsch.
»Es tut mir leid, Rösos! Ich hatte Großputz, und du warst zum Königs fest, ich dachte, du bliebest noch Tage weg . . .« Klatsch.
»Jederzeit, habe ich gesagt!«
Klatsch.
»Ja, jederzeit!
0
bitte, Rösos, bitte! Bitte!«
Klatsch.
Sie preßte die Hände an die Ohren. Warm rann ihr das Wasser die Beine hinunter.
Moria strich sich über die Stirn. Plötzlich fror sie.
So war das eben. Eine gute Hausfrau hatte immer gerüstet zu sein. Männer kümmerten sich nicht um die Schwierigkeiten, die das bereitete. Wahrscheinlich ahnten sie nicht einmal etwas davon.
Ihrer Mutter war so etwas nicht noch einmal passiert.
Und ihr selbst würde es nie passieren.
Sie
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