Die Göttin im Stein
ihr, daß sie es immer tragen muß, daß sie es nie abhegen darf, solange sie das Baby im Bauch hat, damit ihm nichts passiert!«
Kori richtete den Auftrag aus. Strahlend stand sie vor Naki. »Meine Haare schützen jetzt nämlich dein Baby«, erklärte sie ernst.
»Danke, Kori, vielen Dank!« Plötzlich hatte Naki Tränen in den Augen, küßte die Kleine. Die ließ es sich willig gefallen, doch dann lief sie zu Lele. »Zeig mir deinen Ring, den von meinen Haaren!« forderte sie wichtig.
Lele wandte sich ab. »Ich hab' ihn verloren.« Ihre Stimme klang heiser.
»Aber«, meinte Kori und sah sich unsicher um. Keiner sagte etwas.
Daire brach den Flachs. Irrkru schliff den Holzschaft. Lele riß mit dem Kamm durch ein Flachsbüschel.
Naki schluckte.
Große Göttin, trächtige Sau. Lele weiß nicht, was sie da tut.
»Ich kann dir einen neuen Ring geben!« schlug Kori zaghaft vor. »Hier, da sind noch lange Haare!«
»Laß, Kori«, sagte Daire. »Komm her zu mir, hilf mir! Siehst du, das Flachsstroh dort am Boden, kannst du mir daraus ein Büschel zusammenlegen?«
Kori, rasch ablenkt, erfüllte eifrig den Auftrag.
Lele aber stand auf und ging hinaus.
Als sie nach einiger Zeit wieder ins Haus kam, war ihr Gesicht noch blasser als sonst.
»Lele«, fragte Naki – reden, so tun, als wäre nichts – »geht die Sonne bald unter?«
»Ja, bald!«
»Dann«, Naki zögerte, »Daire, brauchst du mich noch, ich würde gerne das Neumondgebet tanzen – du weißt, heute ist Neumondlicht!«
Daire nickte: »Geh nur, Naki! Und – bete für uns!« »Ich will mit Naki!« forderte Kori.
»Nein«, sagte Daire bestimmt, »du bleibst hier, Kori!«
Naki band sich die Fellschuhe um die Füße, nahm den Wollmantel – warmes, dicht gewalktes Tuch, der beste Mantel, den sie je besessen hatte, auch wenn er vor ihr schon viele Jahre von einer anderen Frau getragen schien: ein Geschenk von Lykos –, verließ das Haus und den Hof und stapfte durch den Neuschnee zu der leichten, kaum merklichen Erhebung, die das Dorf vom Schwarzmoor trennte.
Am Morgen hatte es noch geschneit, doch am Mittag war der Himmel aufgeklart, und nun färbte die untergehende Sonne einen wolkenlosen Himmel in Farben von überirdischer Pracht.
Naki blieb stehen, breitete die Arme und schaute.
Lele und Lykos, die Alpträume und die Erinnerungen, diese Angst und Unruhe in ihr, die Stimmen und das Schrillen –nach und nach fiel alles von ihr ab.
Sie schaute, und jeder Atemzug war ein Gebet.
Als die Sonne den Horizont berührte, kniete Naki nieder und malte mit dem Finger die heiligen Zeichen in den unberührten Schnee.
Sie malte das heilige Wasser in endloser Zackenlinie, schloß sie zum Kreis, ohne Anfang und Ende: Lebensspenderin, dich verherrliche ich.
Sie malte einen kleinen Ring, umrandete ihn mit einem größeren, den wieder mit einem noch größeren: Eulengöttin mit den wissenden Augen, dich verherrliche ich.
Sie malte das offene Dreieck: Die du Eins bist in Drei und Drei in Eins, Wiedergebärerin, dich verherrhiche ich.
Dann stand sie auf, hob die Arme und tanzte in den makellosen Schnee mit ihren Füßen die Doppelspirale, tanzte von innen nach außen und im großen Bogen daran anschließend von außen nach innen, vom Tod ins Leben und vom Leben in den Tod, drehte sich im Zentrum des zweiten Kreises um, tanzte zurück ins Leben, hin und her, hinein und hinaus, der ewige Kreislauf.
Längst schaute sie nicht mehr auf ihre Füße, sah nicht mehr nach den Spuren, sah nur zum langsam dunkler werdenden Himmel, beobachtete das Tieferwerden des Rotes, den Wandel zum Violett.
Ruhig und gelöst, versunken in ein Gebet ohne Worte, wartete sie, wartete und war glücklich.
Und da, dicht über dem Horizont, kurz vor dem Entschwinden, konnte sie ihn sehen, den schmalen, feinen Halbreif, den neugeborenen Mond.
Wiedergeboren ist er, der vom Tod verschlungen war. Der Geliebte, der Sohn – drei Tage und Nächte war er tot, geweint hat seine Mutter, seine Geliebte, und das Universum war versunken in Traurigkeit.
Aber siehe, er lebt.
Denn kein Tod ist von Dauer.
Singe, du Himmel! Lache, du Erde! Freut euch, ihr Steine! Breitet mit mir die Arme und tanzt vor Freude!
Wieder hob Naki die Arme, nun drehte sie sich zum Freudentanz, der Schnee wirbelte unter ihren stampfenden, springenden Füßen.
Zurückgekehrt ist das Leben aus dem Tod. Denn ohne Anfang und ohne Ende ist das Mysterium.
»Naki! Was tust du! Her zu mir!«
Sie hörte nicht, tanzte
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