Die goldene Meile
weiß ich nicht. Ich bin kein Arzt.« Als Arkadi müde wurde, löste Viktor ihn ab. Drücken und loslassen. Immer abwechselnd. Drücken und loslassen. Drücken und loslassen, bis schließlich wieder Farbe in Anjas Gesicht zurückkehrte.
SECHSUNDZWANZIG
Kaum hatte Itsy das Messer im Korb des Babys entdeckt, trieb sie die Familie zum Umzug, obwohl es mitten in der Nacht war. Sie waren einem tadschikischen Heroinversteck zu nahe gekommen, das sich unter den Kisten befand, die sie als Brennholz für den Ofen im Bauwagen benutzt hatten. Das Messer war ein Räumungsbefehl. Eine Prozession von Straßenkindern mit einem schreienden Baby würde wahrscheinlich das Interesse der Leute erregen, aber in einer so feuchten Nacht würde vermutlich kaum jemand unterwegs sein. Außerdem war das Baby inzwischen so kostbar geworden, dass Itsy es nicht aufgeben wollte. Langfristig hatte sie kaum einen Plan. Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass Langfristigkeit für sie nicht existierte. Sie verstand sich nur darauf, von einem Tag zum andern zu überleben, aber sie beklagte sich nicht. Schule, Büro, ein behagliches Alter - das alles reizte sie nicht. In vieler Hinsicht war ihr Leben vollkommen.
Leo und Peter trödelten hinterher. Sie hatten schwere Augenlider vom Schnüffeln. Jeder hatte seinen Lieblingsstoff: Aerosol, Modellbaukleber, Schuhpolitur. Itsy bedauerte, dass die Jungen ausfielen, denn sie waren groß genug, um ein bisschen Schutz zu bieten; so hatte allein Tito diese Verantwortung, und er trabte bald auf der einen, bald auf der anderen Seite neben ihnen her, bis sie den Jaroslawler Bahnhof und die Leninstatue erreicht hatten. Dort warteten sie zusammengedrängt darauf, dass die Jungen sie einholten.
Ein vier Wochen altes Baby ist winzig, und selbst wenn es so robust und so warm eingepackt war wie Itsys, hatte es draußen in der Kälte nichts verloren. Plötzlich riss Itsy die Geduld, und sie rannte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie schreckte die wenigen Prostituierten auf, die ihren Rundgang machten, und flitzte in den Wartesaal. Vielleicht waren Leo und Peter auf einem der Stühle weggedämmert. In diesem Fall konnte die Miliz sie schon abgeschleppt haben. Allerdings würde sich in einer solchen Nacht niemand größeren Strapazen unterziehen. Man würde die Jungs allenfalls zum Hinterausgang hinauswerfen.
Schließlich kehrte Itsy zum Eisenbahnschuppen zurück, der wie ein schwarzer Keil im Geschlängel der Schienen unter den beleuchteten Wolken lag. Itsy blieb auf den Gleisen stehen und lauschte nach Schritten oder Stimmen. Sie hatte eine Taschenlampe, aber die schaltete sie nicht ein. Ein Leben auf der Flucht hatte ihre Sinne geschärft. Sie sah den tiefen, dunklen Graben für die Fahrgestellreparaturen, nahm den Geruch von Asche und Urin wahr und hörte das Tropfen des Regenwassers aus dem offenen Endstück eines Abflussrohrs. Von magischen Tadschiken-Kriegern, die auf Gewitterwolken oder auch auf Kehrmaschinen ritten, war nichts zu sehen. Trotzdem war ihr mulmig dabei, sich in die Nähe tadschikischer Ware zu begeben.
In dem Ofen im Bauwagen war noch Glut, und er strahlte einen schrumpfenden Kreis von Wärme aus. Itsy tastete sich zwischen den Kojen hindurch und dachte an ihre grandiosen Pläne für ein tragbares Kinderbettchen. Die konnte sie immer noch verwirklichen, wenn sie eine neue Basis gefunden hätte. Jetzt kam es nur noch darauf an, die Nacht zu überstehen.
Itsy roch Blut. Sie stieg aus dem Wagen und spähte unter die Räder. Dann kehrte sie zum Rand des Grabens zurück, und jetzt knipste sie die Taschenlampe an. Leo und Peter lagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden des Grabens, jeder mit einem unbedeutenden Loch im Hinterkopf. Ihre Mützen hatte man ihnen nachgeworfen. Itsy hatte Leo ein neues Paar gebrauchte Basketballschuhe versprochen. Eine Zigarette klemmte keck hinter Peters Ohr. Sie hätte sicher eine Woche gehalten, denn Peter rauchte nicht. Ein Summen in Itsys Ohren begann leise, schwoll dann aber zu monumentalen Ausmaßen an. Ihre Mutter sagte: Ich taufe dich Isabel. Der Strahl der Taschenlampe färbte sich rosarot.
Der zweite Schuss schleuderte Itsy in den Graben, und zwei Silhouetten nahmen ihren Platz ein.
»Aller guten Dinge sind drei.«
Aus der Pistole kam ein dumpfes Ploppen.
Ein Augenblick der stillen Befriedigung endete mit einem Geräusch, das schnell näher kam.
»Was ist das?«
»Der beschissene Hund.«
Tito sprang den Vorderen der beiden
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