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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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heißt, den Rest muss man sich ausdenken?«, fragte Schenja.
    »Genau. Der Zeitungsbericht ist nur der Anfang.«
    »Schade, dass du keine Kinder hast«, sagte Arkadi. »Du könntest ihnen eine Heidenangst einjagen.«
    »Bitte geh über den Flur und klopf bei deiner reizenden Nachbarin an die Tür«, sagte Viktor. »Wenn nicht für dich selbst, dann für das Vaterland. Ich höre Tschaikowski. Sie ist zu Hause, und wir haben das ganze Essen hier.«
    »Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagte Arkadi. »Wir sind völlig unvorbereitet.«
    »Für mich wäre es wie eine Feier, falls das etwas bedeutet«, sagte Maja. »Ich würde auch kein Wort sagen.«
    »Und ich habe keinen Tropfen getrunken«, sagte Viktor.
    Arkadi gab nach. Er ging hinüber und klopfte. Als er keine Antwort bekam, klopfte er noch einmal und lauschte in die Stille, die sich danach wieder in der Wohnung ausbreitete. Er kniete sich hin und sah Licht unter der Tür. Die Tür war abgeschlossen, aber er hatte eine abgelaufene Kreditkarte in der Tasche, die nur dazu diente, Türen zu öffnen.
    Anjas Wohnung hatte Spiegel verkehrt den gleichen Grundriss wie Arkadis, aber ihre war phantasievoll eingerichtet. Seine Tische und Stühle waren aus dunklem Mahagoni. Ihre waren bunt wie Billardkugeln. An einer Wand hing die Großaufnahme eines Stoßballs, gegenüber die Vergrößerung einer Queue-Spitze. Außer einer Kaffeemühle und einer Espressomaschine wies in der Küche nichts darauf hin, dass sie dort viel Zeit verbrachte.
    »Da drin«, sagte Viktor. »Im Schlafzimmer.«
    Es war ein schönes Zimmer mit Seidenblumen und Murano-Glas. Anja lag auf dem Bett, den rechten Fußknöchel über dem linken, die Arme wie Zweige über den Kopf erhoben, wo sie sich sanft berührten. Die fünfte Position.
    Und sie war tot. Nicht nur tot, sondern zyanblau.
    »GOTT IST SCHEISSE«, stand über ihr an der Wand. Die Farbe war noch nass, aber Anja war tot.
    Beißender Äthergeruch hing in der Luft.
    Arkadi akzeptierte es nicht. Nicht in der fünften Position, nicht mit Äther, nicht so. Das akzeptierte er nicht.
    »Es tut mir leid«, sagte Viktor.
    »Äther, genau wie bei Vera.«
    Arkadi legte ihr die Hand auf die Brust und fühlte nach dem Herzschlag. Keine Atmung, kein Herzschlag.
    »Ich schätze, sie ist seit ungefähr fünf Minuten tot«, sagte Viktor. »Anaphylaktischer Schock. Die Atemwege gehen einfach zu.«
    Arkadi beugte sich über das Bett und schob Anjas Arme herunter und an ihre Seite.
    »Ich möchte noch ein bisschen mit Ihnen streiten.«
    »Tut mir ehrlich leid«, sagte Viktor, »aber sie ist wirklich hinüber.«
    »Welche Ursache kann ein anaphylaktischer Schock sonst noch haben?« Arkadi las, was auf dem Notfallarmband an ihrem Handgelenk stand.
    »Allergien.«
    »Allergien«, sagte Arkadi. »Sie war allergisch gegen Milch. Die Allergie war lebensbedrohlich, also muss sie Schutzmaßnahmen ergriffen haben. Such nach einem Notfallset. Sie sollte zwei Dinge enthalten, eine Maske und etwas, das aussieht wie ein Filzstift. Und sie sollte sehr leicht erreichbar sein.«
    Viktor schaute auf Anja hinunter und dann hinauf zu der gesprühten Schrift an der Wand: GOTT IST SCHEISSE. »Ich weiß nicht, Arkadi - vielleicht sollten wir einen Krankenwagen rufen.«
    »Dazu ist keine Zeit.«
    Arkadi riss die Schränke im Bad auf, und Viktor kippte eine Sekretärschublade nach der andern aus. Aber man muss die Gewohnheiten eines Menschen kennen, um zu wissen, was für ihn naheliegend ist. Arkadi spürte, dass er von Sekunde zu Sekunde mehr über Anja erfuhr, und er fand, was er suchte, als er eine Schreibtischschublade mit Zigaretten öffnete.
    Die Einheit bestand aus zwei Teilen, aus der Maske und dem »Filzstift«. Arkadi zog die Hülse von der stiftartigen Patrone, stieß die entblößte Nadel in Anjas Oberschenkel und jagte das Adrenalin hinein, das den Herzschlag wieder in Gang bringen sollte. An der Maske war ein Beatmungsbeutel befestigt, der aussah wie ein Gummiball. Jedes Mal, wenn Arkadi ihn zusammenpresste, drückte er Luft in Anjas Mund und Nase. Es fühlte sich an, als knete er einen schweren Tonklumpen. Er hielt einen regelmäßigen Rhythmus ein. Drücken und loslassen, drücken und loslassen, alle fünf Sekunden. Es ist eine Körperzone, die Leben vortäuscht, oder ein Zwischenreich, in dem das Herz zu langsam schlägt, um wahrgenommen zu werden.
    »Wie lange sollen wir das machen?«, fragte Viktor.
    »Bis der Äther abgebaut ist.«
    »Und wie lange dauert das?«
    »Das

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