Die Gordum-Verschwörung
Kürbisgesichtern freundlich an.
Rainer Levermann, neununddreißig, Lehrer an der hiesigen Grundschule, lebte in Scheidung, Stammgast im Hafenkieker , hatte sich von Aurich nach Greetsiel versetzen lassen. Ein Gescheiterter, glaubte Greven, als er seine Miene studierte, einer, der außer gesicherten Beamtenbezügen nichts vorzuweisen hatte, ein Biedermann, der auf ihn so bodenlos bieder wirkte, dass Greven sämtliche Brandstifter dieser Erde auf seinem Dachboden vermutete.
Gesine Oltmanns. Wie Harm war auch sie in Greetsiel kleben geblieben. Doch im Gegensatz zu Harm hatte sie den Absprung vom Elternhaus nicht geschafft, war nach einigen Semestern Sozialpädagogik in Oldenburg zurückgekehrt und zu ihrer Mutter gezogen. Ihr Vater war irgendwann auf See geblieben. Jeden verfügbaren Winkel ihres Hauses hatten die beiden Frauen im Laufe der Zeit in Ferienwohnungen umgebaut, um von den Einnahmen mehr schlecht als recht zu leben.
Gesine hatte zwar nie auf Salzwiesen Utopien entfacht, dafür aber einen halbwegs guten Kontakt zu Harm aufgebaut. Sie war die Einzige aus dem Dorf, die ihn regelmäßig auf seinem Kutter besucht hatte. Sie hatte ihn, dessen war sich Greven sicher, am besten gekannt, zumindest in den letzten Jahren. Zwar hatte sie ihm gegenüber darauf bestanden, nie mit Harm die Koje geteilt zu haben, doch so ganz hatte er ihr das nicht abgekauft. Sie war ein Single, wie Harm. Gesine hatte sich ein mädchenhaftes Aussehen bewahrt, trug lange, von Spangen gehaltene, dunkelbraune Haare und war schlank. Gesine und Harm. Was hatte die beiden verbunden? Die brave Gesine, die nie die Welt hatte auf den Kopf stellen wollen, die außer Bier keine anderen Drogen kannte, die noch mit neunzehn keinen an sich rangelassen hatte, und der reife Freak, der in seiner eigenen Welt lebte und noch viele andere Welten kannte. Was wusste Gesine wirklich über Harm, seine Interessen, seinen Weltinnenraum? Was sie zu Protokoll gegeben hatte, war mehr als dürftig, war einfach zu wenig. Und sie war Zeugin seines Auftritts im Hafenkieker gewesen. Zufällig, wie sie ausgesagt hatte, rein zufällig. In der Mordnacht war sie zu Hause gewesen und hatte geschlafen.
Hatte er etwas übersehen? Gesine schien ihm heute Vormittag sehr nervös zu sein, sie vermied es, mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, sah aus dem Fenster, auf den Boden, fühlte sich sichtlich unwohl in der Phalanx, die Häring nach wie vor streng in Form hielt, was Greven allmählich peinlich wurde. In diesem Augenblick, er wandte sich gerade wieder von Häring ab, trafen sich ihre Blicke, verfingen sich für ein, zwei Sekunden, ehe sie wieder auseinander drifteten. Doch reichte diese Kollision aus, dass Greven eine tiefe Verunsicherung in ihren Augen lesen konnte. Vielleicht war es auch Angst. Für einen stummen Dialog, für eine Frage Grevens war die Zeit viel zu kurz. Es blieb beim Aufflackern eines Eindrucks.
Jan und Margret, die besten Freunde, die Greven in Greetsiel hatte, und die er hin und wieder besuchte. Meistens besuchten sie jedoch ihn. Margret besaß in der Sielstraße am Hafen einen kleinen Laden, den sie im ehemaligen Wohnzimmer ihres Elternhauses eingerichtet hatte. Beide machten ernste Gesichter, obwohl Greven sie demonstrativ in den Arm nahm. „Tut mir leid“, sagte er und ging weiter.
Die letzten beiden Kandidaten waren der Wirt und seine Kellnerin, die die Neugestaltung des Hafens genutzt hatten, um aus dem kleinen Gebäude der Fischereigenossenschaft eine Kneipe zu machen. Als Kind hatte Greven hier Krabben gekauft, wenige Meter entfernt von den Kuttern, die sie anlandeten. In dem langgezogenen Klinkerbau wurden sie gesiebt und auf Körbe verteilt. Heute fand dies in großen Verarbeitungsbetrieben außerhalb des Hafens statt.
Nach dem Abschreiten der Formation gab Häring die Erlaubnis zum Rühren und bequem Stehen. Greven schüttelte den Kopf, beobachtete Häring aus dem Augenwinkel heraus, und ließ noch einmal seinen Blick an der Phalanx entlanggleiten, die bereits in Auflösung begriffen war. Hatte er es hier tatsächlich nur mit sechzehn Zeugen zu tun, die das Leben zufällig in die Kneipe gespült hatte, oder war er gerade dem Phantom begegnet, dessen eigene Pläne und Ziele durch Harms nächtliche Äußerungen derart erschüttert worden waren, dass es ihn wenige Tage später in Sichtweite des Hafenkiekers ermordete?
Da er diese Frage nicht beantworten konnte, bat er die Zeugen, die Plätze einzunehmen, die sie an dem besagten Abend innegehabt
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