Die Gordum-Verschwörung
er wollte den Abend am Ort des Geschehens rekonstruieren und so vielleicht der einen oder anderen Erinnerung auf die Sprünge helfen. Außerdem wollte er sich ein eigenes Bild von den Zeugen machen, wollte sehen, wer Harms Ankündigung von seinem bevorstehenden Triumph gehört hatte. Denn vielleicht hatte sein Mörder nicht erst durch Jacobs von der Münze erfahren.
Langsam schritt Greven das Spalier der geladenen Gäste ab, die Häring wie zum Morgenappell hatte Aufstellung nehmen lassen. Ein bisschen übertrieben, dachte er, aber das passte zu seinem Assistenten, der hinter der Phalanx das Geschehen überwachte. Über ihm hing der zwei Meter dreißig lange Meeraal ( Conger conger ) an der Wand, den Werner Poppinga 1991 mit seinem Kutter Erna gefangen hatte. Eines der gefährlichsten Raubtiere, das die Nordsee zu bieten hatte. Noch lange nach seinem Tod und als präpariertes Exponat war die Kraft des Tieres zu ahnen.
Gleich der Erste war ein alter Bekannter, der ihn mit einem freundschaftlichen „Moin!“ begrüßte. Helge Gosselar, Fischer wie sein Vater, und ein paar Jahre älter als Greven. Seinem Gesicht waren die vielen langen Tage und Nächte auf See ebenso anzusehen wie seine Vorliebe für Pils & Korn. Eine schwarze Schirmmütze mit der Anstecknadel der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger verbarg seinen kahlen Kopf.
Ein Tourist aus München, Karl-Josef Klocke, Anfang vierzig, war mit dem Motorrad angereist, um Freunde in Greetsiel zu besuchen, arbeitete als Kameramann beim Bayerischen Rundfunk, beschwerte sich darüber, hier ohne jeden ersichtlichen Grund festgehalten zu werden. Greven hatte seine nagelneue Moto Guzzi California vor dem Gebäude bewundert.
Beate und Thomas Unterfeld aus Essen, beide Rentner, verbrachten seit Jahren den Sommer in Greetsiel, fanden die Ermittlungen furchtbar aufregend und hatten längst eine eigene Theorie über den Mord ausgetüftelt. Ihrer Ansicht nach konnte nur einer der anderen Bootsbesitzer als Täter in Frage kommen. Wer sonst hätte sich so unauffällig auf dem Anleger bewegen können? Wer sonst hätte so schnell den Tatort verlassen können? Die benachbarten Boote waren sichere Verstecke. Margaret Rutherford und Stringer Davis aus dem Kohlenpott. Greven musste unwillkürlich schmunzeln, obwohl ihre Gedanken nicht abwegig waren und er diese Möglichkeit bislang vernachlässigt hatte. Eine Aufgabe für Ackermann, dachte er.
Es folgte noch ein weiteres Rentnerpärchen, allerdings ohne detektivische Ambitionen, sondern von diversen Haut- und Atemwegserkrankungen geplagt. Ihre Hoffnungen richteten sich auf die gesunde Seeluft und somit letztendlich auf die Versprechungen von Hochglanzprospekten. Schlaff und desinteressiert hingen sie in ihren grauen Klamotten wie einst das Ehepaar Honecker.
Jabbe de Vries, ebenfalls ein alter Bekannter, hatte zwei Jahre nach Greven das Abitur gemacht und in Hamburg vergeblich Geologie und Publizistik studiert, um Wissenschaftsjournalist zu werden. Er arbeitete seit einigen Jahren bei der Tourismus GmbH und hatte sich an dem besagten Abend mit drei seiner Kolleginnen getroffen, die brav neben ihm standen.
Jabbe war wegen Körperverletzung vorbestraft, hatte aber für die Mordnacht ein Alibi, bestätigt von Anja Haayen, der mit Abstand Hübschesten der drei Grazien, die jene Nacht bei Jabbe verbracht hatte, was ihre beiden Kolleginnen nicht erfahren durften. Sein Gesicht gewährte keinen Zugang, Grevens fragende Blicke perlten ab, als sei seine Haut versiegelt, als gingen ihn diese Ermittlungen nichts an. Ihm eilte der Ruf voraus, ehrgeizig und erfolgreich zu sein. Er hatte viel zum neuen Image des alten Fischerdorfes beigetragen, hatte die Zahl der Übernachtungen steigern und die lokale Infrastruktur verbessern können. „Greetsiel ist kein Ort, sondern ein Produkt“, hatte er kürzlich dem Journalisten Bönhase erklärt, „ein Produkt, das die Tourismus GmbH an den Mann zu bringen hat. Hinter jedem Produkt verbirgt sich eine Idee. Meine Aufgabe ist es, diese Idee herauszuarbeiten und die Kunden unseres Produktes von dieser Idee zu überzeugen.“
Claudia Schoffelmann und Tambine Martens, seine anderen beiden Kolleginnen, hatten bojengleiche Figuren und waren derart aufgebrezelt, dass Greven keinen Quadratzentimeter Haut erwischen konnte. Wie sie im wirklichen Leben aussahen, war nicht zu erkennen. Beide kamen aus dem Nachbarort Pilsum, waren ausgebildete Industriekauffrauen und strahlten ihn aus vollen
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