Die Gordum-Verschwörung
hatten, und gemeinsam zu rekonstruieren, was genau geschehen war. Jaspers spielte Harm Claasen. Auf Grevens Kommando hin betrat er den Gastraum und mimte beeindruckend gut den schon deutlich berauschten Freak.
Doch es war wie so oft bei Zeugenaussagen: Jeder hatte die Ereignisse anders in Erinnerung, hatte andere Wahrnehmungen gespeichert, andere Eindrücke selektiert, andere Worte gehört. Waren sich bei Harms Bestellung, ein Pils, alle noch einig, so behaupteten gleich drei der Zeugen, von ihm zuerst angesprochen worden zu sein. Selbst über seine Kleidung waren sie sich nun uneins, aber vor allem über seine Worte. Miss Marple und Mr. Stringer sowie Herr Biedermann und der rotgesichtige Fischer gerieten sich fast in die Haare. Selbst Häring fiel es schwer, die anwachsende Kakophonie wieder unter Kontrolle zu bringen.
Greven sagte kein Wort und griff auch nicht ein, sondern konzentrierte sich auf die Äußerungen und Reaktionen der Menschen, die mögliche Figuren des offenen Spiels um Gordum sein konnten. Immer wieder prallten die Meinungen der Zeugen aufeinander, sahen sie Harm mal hier und mal dort stehen. Was am Ende des kurzen Schauspiels blieb, war die Gewissheit, dass er offensichtlich davon überzeugt gewesen war, in Kürze eine Art Star zu werden. Alle Zeitungen und das Fernsehen, so hatte er prophezeit, würden bald über ihn berichten, würden ihn herausheben aus der dumpfen Masse, die das Träumen längst verlernt habe. Er jedoch werde aus einem Traum Wirklichkeit werden lassen.
Als den Zeugen die Erinnerungen ausgingen, überließ sie Greven seinen Kollegen, die noch Formalitäten und Widersprüche in den Aussagen zu klären hatten, und ging essen. Da Thea Woltke in einem der kleinen Häuschen im Kattrepel wohnte, war seine Wahl auf das Witthus gefallen.
Der Kattrepel war eine schmale Straße, die an beiden Seiten von zumeist kleinen Häusern gesäumt wurde, Fischerhäuser, kaum älter als hundert Jahre, dicht aneinandergeschmiegt. Noch als Greven Kind war, hatte der Kattrepel nicht mal eine Straßendecke oder ein Pflaster besessen. Ein schmaler Klinkerpfad führte durch das Viertel, rechts und links davon versank man im Matsch. Heute, nach diversen Sanierungs- und Dorferneuerungsmaßnahmen, zählte der Kattrepel zu den Schmuckstücken des Ortes, und mitten drin stand das Witthus . Ein findiger Investor hatte die alte Tischlerei in den siebziger Jahren gekauft, weiß anstreichen lassen (daher der Name), und in ein feines Restaurant umgewandelt.
Greven hatte Mühe, in dem gut besuchten Haus einen Platz zu finden, und setzte sich nach der obligatorischen Anfrage zu zwei alten Damen an den Tisch. Er bestellte sich Scholle, auch wenn diese Bezeichnung längst antiquiert war, denn die hiesigen Gastronomen hatten den Plattfisch mit dem lateinischen Namen Pleuronectes platessa vor einigen Jahren in Greetsieler Kutterscholle umgetauft. Worin sich diese neue Spezies allerdings von einer in Neuharlingersiel oder Hooksiel angebotenen Scholle unterschied, blieb ein Geheimnis der Namensgeber. Ihm gelang es trotz einiger Erfahrung nicht einmal, sie von einer Büsumer oder Husumer Scholle zu unterscheiden. Was ihn nicht davon abhielt, sie sich schmecken zu lassen.
13. Kapitel
Pünktlich zur vereinbarten Zeit stand Greven vor einem der kleinen Häuser im Kattrepel. Kaum hatte sich die alte Eichentür auf sein Klingeln hin geöffnet, ließen seine Muskeln seinen Bauch blitzschnell verschwinden, und sein Denken verließ für einen Moment fluchtartig seinen Kopf und gab der Gravitation nach. Thea Woltke war etwa dreißig, hatte sehr lange, dunkelblonde Haare und trug eine jener aus der Mode gekommenen Blusen, die, wie Groucho Marx es einmal formuliert hatte, alles zeigen, was sie verbergen. Ihr schlanker Körper steckte in einer entsprechenden Jeans; ihr Gesicht war zart, ihr Teint blass, ihre Augen braun und groß. Sie lächelte sanft.
Greven kämpfte tapfer, und es gelang ihm schließlich, sein Denken wieder in höhere Gefilde zu verlagern und sich der jungen Frau ordnungsgemäß vorzustellen. Mit weicher und freundlich singender Stimme bat sie ihn ins Haus. Endlich einmal kein Kerberos, freute sich Greven, und folgte ihrer Hose in ein erstaunlich großes Wohnzimmer.
Hier gab es die zweite Überraschung. Der niedrige Raum im hinteren Teil des hervorragend restaurierten Fischerhauses glich einem Heimatmuseum. Jeder Zentimeter der Wände war mit alten Fotos, Landkarten, Zeichnungen und Stichen bedeckt,
Weitere Kostenlose Bücher