Die Gordum-Verschwörung
alte Ysker war eine Ausnahme. Ihn kannte er seit Kindertagen, er wusste ziemlich genau, wer er war, und daher auch, was von seinen Urteilen zu halten war.
Der Kapitän verließ das Fahrwasser, das kaum noch schiffbar war, und hielt auf eine kleine Sandbank zu. Das Motorboot rutschte widerwillig auf die leichte Anhöhe und blieb auf dem halbwegs festen Boden liegen. Gemeinsam hoben sie die beiden Kreier aus dem Boot, die kein Wasser unter dem Kiel benötigten. Sie hatten eine Position im Watt erreicht, von der aus die Küste nur noch schemenhaft wahrnehmbar war. Von den Inseln waren sie ebenso weit entfernt. Mitten im Zwischenreich. In der Grauzone. Jedes Mal, wenn Greven dieses Reich betrat, fühlte er sich wie ein Raumfahrer, der einen fremden Planeten erkundete. Die Erde war außer Sicht, und das schützende Mutterschiff hatten sie in der Umlaufbahn zurückgelassen, um mit einer kleinen Raumfähre die Oberfläche zu erkunden. Schiff und Fähre. Nicht ohne Grund hatte sich die Raumfahrt diese Begriffe ausgeliehen, denn sie war nur die Fortsetzung dessen, was Odysseus, Erik der Rote und Columbus begonnen hatten.
Das Grau war hier noch intensiver, der Horizont noch diffuser. An einigen Stellen ging er bruchlos in den Himmel über. So sehr sich das Auge auch bemühte, die vertraute Linie, die die Elemente Erde und Luft voneinander schied, war nicht auszumachen. Greven machte eine langsame 360°-Drehung. Ein fremder Planet, nicht Lichtjahre entfernt in den unendlichen Weiten des Alls, sondern wenige Seemeilen vor dem Deich gelegen.
Der alte Ysker schüttelte den Kopf, kniete sich auf den Kreier, stieß sich mit dem rechten Fuß ab und fuhr los. Greven folgte ihm mit dem zweiten Kreier, so schnell er konnte, sein Knie mahnte ihn zur Vorsicht. Nach guten fünfhundert Metern hielt er an und warf einen Blick zurück. Das Boot war nicht mehr zu sehen. Er spürte seinen Herzschlag, spürte Trockenheit im Mund. Von dem Boot hing ihr Leben ab, und seins noch dazu von einem über Achtzigjährigen. Der Schlick spritzte, als er den Kreier wieder in Fahrt brachte, denn er wollte den Anschluss auf keinen Fall verpassen. Als er den Kapitän eingeholt hatte, lief ihm der Schweiß ins Gesicht. Wortlos glitten sie eine Weile nebeneinander her über das farbenfrohe Grau, dann hielt der alte Ysker unvermittelt an, befragte kurz seine Uhr, seinen Kompass und zog aus einem abgewetzten Lederfutteral, in dem Greven einen Feldstecher vermutet hatte, einen Sextanten. Er schwenkte die Sonnenblende vor das Okular und nahm sich die Sonne vor. Die Alhidade setzte sich in Bewegung, um auf dem Limbusbogen den gemessenen Winkel anzuzeigen.
„Wi sünt gliek dor“, stellte der alte Ysker fest, dem die drei Buchstaben GPS wahrscheinlich nichts sagten. Nach ein paar hundert Metern hielt er an und sprach: „Nu kannst du dien Stadt söken. Aber wenn du mi frogst, hier hett dat noit een Stadt gäbn.“
„Das ist der Ort, den die Karte anzeigt?“, fragte Greven, der nicht wusste, wie der Fischer zu diesem Schluss gekommen war, wie er mit den Landmarken P und K und den Entfernungsangaben umgegangen war.
Der alte Ysker signalisierte mit seinen Augenbrauen, einem Lächeln und seinen Händen ein ‘Ungefähr!’ und setzte sich auf den Kreier.
Greven erhob sich mühsam aus der für ihn unbequemen Haltung und wiederholte die 360°-Drehung. Auch hier schillerte das Grau in allen Farben, verzerrte die erhitzte Luft den Blick in die Ferne, war der Horizont an manchen Stellen nicht dingfest zu machen. Nur Borkum, das westlich von ihnen lag, war näher gerückt. Borkum. Vielleicht die Namenserbin von Burchana. Wer wusste das schon.
Obwohl der Wattplanet vor Leben nur so strotzte, schließlich galt er als Kinderstube der gesamten Nordsee, war kein Laut zu hören.
Totenstille. Nicht einmal eine Möwe war zu sehen. Nichts. Die Aliens hatten sich gut versteckt.
Greven ließ den Kommandanten in der Raumfähre zurück und ging auf eine Umlaufbahn. In langsam größer werdenden Zirkeln umkreiste er den Kreier mit dem regungslosen Fährmann an Bord. Im halbfesten Wattboden hinterließ er Abdrücke, die jenen von Neil Armstrong glichen, nur dass seine in wenigen Stunden schon nicht mehr existieren würden. Im Watt konnte man keine Fußspuren hinterlassen. Auf dem Mond schon. Zum Beispiel im Mare Tranquilitatis. Auch so ein Meer. Wattgrau hatten es die Astronauten am 21. Juli 1969 vorgefunden und trockenen Fußes betreten.
Er pflügte mit den Augen das Watt um,
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