Die Gordum-Verschwörung
griff nach jeder Muschel und jeder Unregelmäßigkeit. Der Radius seiner Umlaufbahn vergrößerte sich zusehends, doch der Wattboden hielt sich bedeckt. Was in ihm schlummerte, war von oben nicht zu erkennen. Das Watt konnte schweigen. Und wenn es dieses graue Schweigen doch einmal brach, spielte es Ebbe und Flut mit den Archäologen, ließ ihnen nur Zeit für Oberflächliches, für ein paar Funde, ein paar Fotos, dann hüllte es den Ort der Erkenntnis wieder in sedimentiertes Schweigen. Panta rhei. Heraklit wäre vom Watt begeistert gewesen.
Plötzlich stieß Greven auf eine Grenze, das Grau unter seinen Füßen wurde schwarz. Wie mit einem Lineal gezogen. Dann ein eleganter Bogen. 90°. Ja, das war ein rechter Winkel. Er beschleunigte die Schritte, suchte nach weiteren Anhaltspunkten, nach Torfstücken oder Fundamenten. Wieder änderte das Schwarz die Richtung, hielt nun auf Borkum zu. Greven folgte der schwarzen Grenzlinie, die nach und nach ihre scharfe Kontur verlor und ausfranste. Für einige Meter übernahm das Grau wieder die Herrschaft, dann meldete sich das Schwarz eindrucksvoll zurück. Greven machte kehrt und stellte sich vor das schwarz eingerahmte graue Tor. Er hob den Blick. Nicht der Grundriss einer Stadt lag vor ihm, sondern ein schwarzes Gebilde in Form eines riesigen Tintenkleckses.
Er hatte einen jener schwarzen Flecken im Watt erwischt, die Wissenschaftlern und Ökologen schon seit Jahren Sorgen bereiteten. In unregelmäßigen Abständen traten sie auf und kündeten vom Tod. Denn an diesen Stellen war das Watt nicht mehr intakt, war sein Ökosystem derart gestört, dass es abstarb. Selbst das Watt, so fern und unberührt es auch scheinen mochte, war Teil der Welt, die ihm seinen Stempel in Form dieser schwarzen Flecken aufdrückte. Und selbstverständlich schwelte der für das Zeitalter so typische Expertenstreit, ob dieses Phänomen nun vorwiegend natürlichen oder künstlichen Ursprungs war.
Ernüchtert kehrte Greven auf direktem Weg zu seinem Fährmann zurück, der ihn kopfschüttelnd empfing und ihm den Weg aus dem Zwischenreich wies.
15. Kapitel
Mona erwartete Greven im Hafenkieker . Sie hatte den Samstagnachmittag genutzt, um der Eröffnung einer Ausstellung in der ersten der beiden Greetsieler Zwillingsmühlen beizuwohnen. Gisbert Wilhelm: Irische Impressionen.
„Na, habt ihr Gordum gefunden?“
„Nein“, gestand Greven, den die Exkursion mehr Kraft gekostet hatte als den alten Ysker. „Ich hatte auch nicht ernsthaft gehofft, etwas zu finden.“ Er setzte sich und bestellte ein großes Mineralwasser und einen Espresso. Mit wenigen Worten umriss er die Erlebnisse und Gefühle des Nachmittags, dann löschte er seinen Durst.
„Und, wie war die Vernissage?“
„Sehr gut“, sagte Mona kühl. „Gisbert hat dich vermisst. Er hat aus Irland wirklich gute Bilder mitgebracht. Vielleicht sogar seine besten. Du musst dich auch mal wieder bei ihm blicken lassen. Musstest du denn unbedingt heute diese fruchtlose Wattwanderung unternehmen?“
„Es war ein Angebot, dass ich nicht abschlagen konnte, das weißt du doch. Außerdem war Ebbe und das Wetter gnädig.“
„Dafür hat sich jemand anderes blicken lassen“, fuhr Mona fort und zielte mit einem strengen Blick auf Greven, der sich keiner Schuld bewusst war. „Thea Woltke. Bestimmt hat sie gehofft, dich auf der Vernissage zu treffen.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Sie ist doch dein Typ, oder? So, wie du von ihr erzählt hast? Als ich sie gerade gesehen habe, war mir alles klar. Lange blonde Haare, Topfigur, große Möpse, und dann dieser Blick. Oh Mann, hat die Augen.“
Greven beantwortete Monas Eifersuchtsattacke mit einem bittersüßen Lächeln. „Sie ist nur eine Zeugin.“
„Sie ist eine durchgeknallte Esotante, die dir eine völlig absurde Verschwörungstheorie verkauft hat, gestützt auf die Aussagen ihres längst verstorbenen Großvaters. Möge er in Frieden ruhen. Nimmst du das etwa für bare Münze? Gerd, also bitte!“
„Immerhin hat sie …“
„… dich schwer beeindruckt, vor allem dein Zentralorgan. Die hat in der Mühle vielleicht einen Auftritt hingelegt. Werbefachfrau. Also, davon versteht sie etwas, das muss man ihr lassen, die hat wirklich ganz schön für sich geworben. Dafür, dass sie angeblich keinen kennt in Greetsiel, hat sie erstaunlich viele mit Küsschen begrüßt.“
„Mich aber nicht“, verteidigte sich Greven sachlich. „Ich habe sie nur als Zeugin befragt. Ich gebe ja zu,
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