Die Gottessucherin
Einsamkeit. Sie brauchte Hilfe, sie brauchte Rat.
>Ich habe den Herrn beständig vor Augen ... Mach dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten ... Such ihn zu erkennen auf all deinen Wegen ...< Plötzlich hatte sie eine Idee. »Seht Ihr die Inschrift über dem Eingang?«, fragte sie den Hafenkommandanten. »Für Kaufleute aller Herren Länder. Jeder Händler, jeder Makler, der diesen Saal betritt, vertraut auf dieses Versprechen. Männer, die in der ganzen Welt zu Hause sind, kommen zu uns, um hier ihre Geschäfte zu machen, weil sie sich auf die Regeln und Vorschriften verlassen, die an dieser Börse herrschen. Wenn Ihr jetzt das Recht des Kaisers brecht und den Hafen für die Schiffe der Firma Mendes sperrt, werden diese Männer überall berichten, was geschehen ist. In wenigen Wochen werden sämtliche Börsen Europas davon erfahren. Das Vertrauen der ausländischen Kaufleute in den Schutz, den die Stadtväter von Antwerpen ihnen zugesichert haben, wird ebenso schnell sinken wie das Ansehen der ganzen Stadt. Schiffseigner werden ihren Kapitänen befehlen, unseren Hafen zu meiden, aus Furcht um ihre Sicherheit und ihr Eigentum. Kein Gewürzhändler wird mehr hier anlegen, um seine Ladung zu löschen. Die Schauerleute werden ihre Arbeit verlieren, und an der Börse wird es keine Waren mehr geben, um damit Handel zu treiben. Euer Befehl wird Antwerpen ein Vermögen kosten! Euer Verstoß gegen das Recht wird die Stadt in den Ruin treiben!« Gracia hatte mit solchem Eifer gesprochen, dass ihre Wangen glühten. Aber der Kommandant verzog kaum eine Miene. »Wollt Ihr die Obrigkeit erpressen? Mit der Ächtung meines Hafens?« Gleichgültig zuckte er die Achseln. »Das würde ich an Eurer Stelle nicht tun, Mevrouw Mendes, sonst seid Ihr nie imstande, die Schuld für Euren Zoll zu zahlen. Und Ihr wisst ja, welche Strafe darauf steht.« Er fuhr sich mit der Kante seiner rechten Hand einmal über den linken Arm.
»Das werdet Ihr nicht wagen, niemals!«, rief Gracia. »Antwerpen gehört zur Hanse, und alle Städte, die je in der Hanse geächtet wurden, waren in kürzester Zeit ruiniert!« Aber Suurbier hörte ihr gar nicht mehr zu. Ein Dominikaner, der eben herangeschlichen war, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Kommandant lauschte mit erhobenen Brauen, dann ging ein Strahlen über sein rotes Gesicht.
»Gerade erfahre ich, dass Diogo Mendes auf Befehl der Regentin seine Privilegien verloren hat. Ab sofort ist er im Verlies untergebracht, um einer peinlichen Befragung unterzogen zu werden. Wie es sich für einen solchen Verbrecher gehört.« Mit einem Schlag verstummte der Lärm im Saal, voller Entsetzen schauten die Kaufleute sich an. Jeder wusste, was die Nachricht bedeutete. Die peinliche Befragung hieß Folter, und diese diente nur einem Zweck: Diogo Mendes ein Geständnis abzupressen, das ihn auf den Scheiterhaufen bringen würde. Die Nachricht war so ungeheuerlich, so außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, dass Gracia keine Worte fand. »Habt Ihr endlich begriffen?« Der Hafenkommandant schaute sie mit gespieltem Mitleid an. »Ja, ja«, sagte er. »Ich fürchte, damit sind die gemütlichen Zeiten vorbei.« Dann verschwand das falsche Mitleid aus seinem Gesicht und machte kaltem, bösem Triumph Platz. »Vielleicht glaubt Ihr mir jetzt. Der Judenspuk hat ein Ende - ein für alle Mal!«
21
Die Leiche lag schon auf dem Seziertisch bereit. Mit einem Kopfnicken begrüßte Amatus Lusitanus die Ärzte, die sich zu dem Experiment in seinem Haus eingefunden hatten, und zog sich seinen Kittel an. Während sein Assistent auf einem Hochstuhl Platz nahm, um von dort aus die Obduktion zu erläutern, schaute Amatus noch einmal in das Gesicht des Toten. Was war das wohl für ein Mensch gewesen, dessen körperliche Hülle da vor ihm lag? Man hatte den Leichnam am frühen Morgen gebracht - ein Mann mittleren Alters, der an einer Bauchwunde gestorben war. Obwohl er erst vor wenigen Stunden sein Leben ausgehaucht hatte, war sein Gesicht bereits eine bleiche, wächserne Maske, starr und grau, als hätte es nie gelebt. Amatus nahm das Skalpell und trat an den Tisch. In Lissabon war die Öffnung von Leichen verboten. Er hatte deshalb dort nur tierische Kadaver seziert, einen Biber, einen Hund und ein Krokodil. Doch gleich nach seiner Ankunft in Antwerpen hatte er sich an einen menschlichen Körper gewagt. Seitdem hatte er über ein Dutzend Sektionen vorgenommen, darunter an einem Greis, in dessen Brust ein behaartes Herz geschlagen
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