Die Gottessucherin
hatte, sowie an einer schwangeren Frau.
Dennoch war es für ihn jedes Mal ein ganz besonderer, fast feierlicher Augenblick, bei dem ihn eine Ruhe überkam wie andere Menschen vielleicht im Gebet.
Jahrhundertelang hatten die Ärzte sich in Ausübung ihrer Heilkunst ja nur an die Schriften der antiken Autoren gehalten, und noch immer beteten die meisten Kollegen die überlieferten Lehrmeinungen nach, ohne sich selbst ein Urteil zu bilden, im Vertrauen auf die unabänderlichen Gesetze des Schöpfergottes. Aber wie sollte man eine Vorstellung vom göttlichen Plan und seiner Verwirklichung im menschlichen Apparat gewinnen, ohne eigene Anschauung vom Aufbau des Körpers und dem Zusammenwirken seiner inneren Organe?
Amatus Lusitanus beugte sich gerade über den Leichnam, um mit der Operation zu beginnen, da kam ein Diener herein. »Ich habe doch befohlen, mich jetzt auf keinen Fall zu stören«, herrschte Amatus ihn über die Schulter an. »Eine Frau wartet in der Halle. Sie will Euch unbedingt sprechen.«
»Eine Frau? Wie heißt sie?«
»Gracia Mendes.«
Amatus warf sein Besteck hin. »Sag ihr, ich komme sofort.« Ohne auf das Murren seiner Kollegen zu achten, zog er den Kittel aus und verließ den Saal. Seine Ruhe war dahin. Er hatte Gracia nicht mehr gesehen, seit er sich ihrer Schwester Brianda erklärt hatte. Er war ihr aus dem Weg gegangen, hatte nicht einmal mehr gewagt, seinen Freund Diogo zu besuchen, aus Angst, dass sie ihn zurückweisen würde.
Wenn sie ihn heute besuchte, konnte das nur eines bedeuten! Als er in die Halle kam, stand sie mit dem Rücken zu ihm, versunken in den Anblick eines Wandteppichs. Aber merkwürdig, ihr Haar war unbedeckt, sie trug weder Hut noch Haube, obwohl die Bedeckung des Haars Pflicht für eine Jüdin war, und um ihre Schultern war nur ein loser Schal geschlagen. »Dona Gracia«, rief er. »Seid Ihr gekommen, um mir Eure Antwort zu geben?«
»Meine Antwort?« Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht so ernst, dass Amatus erschrak. »Ach so, ja, meine Schwester hat mir Eure Frage ausrichten lassen. Aber ich bin nicht deshalb hier. Sondern wegen Dom Diogo.« Ihre Augen waren gerötet, so als hätte sie geweint.
»Wegen Diogo?«, fragte Amatus enttäuscht. »Ja, wisst Ihr denn nicht, dass sie ihn verhaftet haben?« »Doch, natürlich, das ist ja allgemein bekannt. Aber Ihr könnt beruhigt sein. Er hat mir geschrieben, in seiner Zelle sei es so bequem wie in einem Gasthaus. Außerdem kommt er bald wieder frei. Es geht wohl nur um die Höhe des Lösegelds.« »Das alles gilt nicht mehr! Sie haben Diogo ins Verlies gesteckt! Um ihn aufs Schafott zu bringen!« »Um Himmels willen!«
»Außerdem haben sie eine Hafensperre verhängt, für alle Schiffe der Firma Mendes. Hunderte Flüchtlinge können weder an Land noch zurück in ihre Heimat. Wenn Dom Diogo stirbt, werden auch sie sterben! Sie werden verhungern und verdursten!«
»Wer hat das veranlasst? Aragon?«
»Aragon hat auf jeden Fall seine Hand im Spiel. Aber ich fürchte, auch die Dominikaner stecken dahinter. Vor allem einer, Cornelius Scheppering. Er hat unsere Familie schon in Lissabon verfolgt.«
»Der Mönch mit der durchbohrten Fontanelle?«, rief Amatus. »Kennt Ihr ihn?«
»Ja, er hat mich als Arzt konsultiert.«
»Dieser Teufel ist Euer Patient?« Hoffnung flackerte in Gracias Augen auf. »Das ist eine Fügung des Himmels!« Sie nahm Amatus' Hände und drückte sie an sich. »Bitte, Doktor Lusitanus, ich flehe Euch an! Sorgt dafür, dass dieser Teufel keinen Schaden mehr anrichten kann!« »Wie stellt Ihr Euch das vor?«
»Ihr seid sein Arzt! Ihr verschreibt ihm Kräuter, Tinkturen, Gifte!«
»Seid Ihr wahnsinnig?«
»Im Talmud steht geschrieben: Wenn dich jemand töten will, komm ihm mit der Tötung zuvor.«
»Ich habe einen Eid geschworen, allen Kranken zu helfen, die meine Hilfe brauchen.« Er versuchte, sich von ihr loszumachen, aber Gracia hielt ihn fest. »Ihr müsst es tun! Bitte! Für Diogo!«
In diesem Moment begriff Amatus, warum Gracia ihn abgewiesen hatte. Die Angst in ihrem Gesicht, die geröteten Augen sagten ihm alles. Statt seine Gefühle zu erwidern, liebte sie einen anderen - sie liebte seinen Freund.
Plötzlich fühlte er sich so leer und schwach wie nach einem Ader-lass. Warum ließ sie seine Hand nicht los? Was hatten sie noch zu bereden? In seinem Haus warteten zwei Dutzend Kollegen darauf, ihm bei einem Experiment zuzusehen. »Nein, das geht nicht«, sagte er. »Ich bin Arzt. Meine
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