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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Dämmerung hereinbrach, streifte er immer noch um das Haus herum, unfähig, sich zu entscheiden. Wenn sein Bruder hier in Braga zurückbliebe, um als Christ unter Christen zu leben, könnte er frei von Angst und Not seine Lehre fortsetzen und später als Geselle auf Wanderschaft gehen. Er würde sich in ein Mädchen verlieben, heiraten, einen eigenen Hausstand gründen und Kinder bekommen, und wahrscheinlich würde er eines gar nicht allzu fernen Tages zusammen mit seinen Stiefbrüdern die Werkstatt des Hutmachers übernehmen. Was hingegen erwartete ihn, wenn Samuel ihn mit nach Antwerpen nähme? Ein kaltes, regnerisches Land, wo die Menschen eine fremde Sprache sprachen, wo er sich Tag für Tag verstellen und lügen müsste, in steter Angst, auch dort, in dieser neuen, fremden Heimat, irgendwann bedroht und verfolgt und vertrieben zu werden, wie alle Juden, fast überall auf der Welt. Durch das Fenster sah Samuel, wie die Familie im Schein einer Öllampe das Abendbrot teilte und die Kinder sich von ihren Eltern zur Nacht verabschiedeten. Nein, er hatte kein Recht, Benjamin hier herauszureißen. Während die Grillen zu zirpen begannen, erloschen die Lichter im Haus, und bald umfing Samuel dunkle Nacht. Ob Benjamin wohl inzwischen schwimmen konnte? Voller Wehmut stellte er sich vor, wie sein Bruder mit seinen neuen Geschwistern und Freunden im Cavado badete. Nein, er würde sein Versprechen niemals einlösen können, ihm das Schwimmen beizubringen.
    Samuel wollte sich schon abwenden, er hielt es nicht länger aus, seinem Bruder so nah und gleichzeitig so fern zu sein - da hörte er ein vertrautes Murmeln.
    »Gepriesen seiest Du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der mit seinen Worten Abend werden lässt ...« Das Murmeln kam aus der Werkstatt, wo jemand eine Kerze angezündet hatte. Samuel schlich ans Fenster und blickte hinein. Im Innern, vor einem Ballen Werg, sah er im Kerzenschein seinen Bruder. Benjamin hatte den Kopf bedeckt und einen Riemen um seinen linken Arm gewickelt. Hatte er heimlich die Bar-Mitzwa gefeiert?
    »Gelobt seiest Du, Ewiger, Erlöser Israels. Führe uns zur Ruhe.« Nein, Samuel hatte sich nicht getäuscht. Sein Bruder sprach das Abendgebet, wie es das Gesetz von einem Juden verlangte. Plötzlich wusste Samuel, was er zu tun hatte, und ohne länger zu zögern, formte er seine Hände vor dem Mund zu einer Hohlkugel und blies in die Kerbe zwischen den Daumen, um den Lockruf des Käuzchens nachzumachen.
     

20
     
    Für Kaufleute aller Herren Länder.
    In Stein gemeißelt prangte die Inschrift über dem Eingang der Börse von Antwerpen, um in dem ewig lärmenden Handelssaal ihre Besucher willkommen zu heißen, verbunden mit dem Versprechen, sowohl das Recht wie auch das Eigentum eines jeden Kaufmanns vor Willkür zu schützen, der willens und bereit war, nach Maßgabe der hier geltenden Gesetze Geschäfte zu machen.

Würde sich dieses Versprechen heute bewahrheiten? »Ich habe einen Beschwerdebrief verfasst«, rief Gracia Mendes gegen den Lärm in der Halle an. »Er ist gerichtet an den Magistrat der Stadt Antwerpen, an die Regentin Maria sowie an Kaiser Karl.«
    Sie hatte sich auf eine Treppe gestellt, damit jeder sie sehen konnte. Doch würde ihr, der einzigen Frau unter so vielen Männern, überhaupt jemand zuhören? Sie war zwar als Schwägerin von Diogo Mendes und Mitinhaberin der Firma im Handelssaal bekannt, und man war daran gewöhnt, dass sie ohne ihren Schwager Geschäfte abschloss, doch sie hatte hier noch nie eine Rede gehalten. Ihre Hoffnung, in dem Tohuwabohu Aufmerksamkeit zu erlangen, gründete allein darauf, dass an der Börse nicht nur Waren gehandelt wurden, sondern auch Neuigkeiten, die manchmal über Nacht den Wert einer Ware halbierten oder verdoppelten. Und wirklich: Kaum hatte Gracia zu sprechen angefangen, strömten von allen Seiten Neugierige auf sie zu, Kaufleute genauso wie Schiffseigner, und während sie von immer mehr Menschen umringt wurde, verstummte allmählich das Schreien und Lärmen im Saal, bis nur noch ihre eigene Stimme zu hören war. »Die Verhaftung meines Schwagers Diogo Mendes verstößt gegen die Schutzrechte, die von der Stadt Antwerpen allen Kaufleuten garantiert werden. Kein Kaufmann darf in Haft genommen werden, ohne Prozess vor einem Gericht - egal, ob er Flame oder Deutscher, Engländer oder Franzose, Spanier oder Portugiese ist. Ich fordere darum die sofortige Freilassung von Diogo Mendes sowie die Öffnung aller Speicher und die Rückgabe

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