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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Aufgabe ist es, Menschen zu heilen - nicht, ihnen zu schaden.« »Aber Diogos Leben steht auf dem Spiel!«
    »Ich weiß. Aber ich kann nicht das Leben eines Menschen gegen das Leben eines anderen Menschen aufrechnen.« Er nickte ihr zu, um sich von ihr zu verabschieden. Doch noch immer umklammerte sie seine Hand.
    »Bitte«, flüsterte sie. »Wenn Ihr es nicht für Diogo tut, tut es für mich.«
    Wieder schaute sie ihn an, mit ihren dunklen, fast schwarzen Augen, und dieser eine Blick reichte, um ihn zu überzeugen, dass es nichts Wichtigeres in seinem Leben gab als diese Frau. Und es gab nur eine Möglichkeit, ihr seine Liebe zu beweisen.
     

22
     
    Wie einst Jona im Bauch des Walfischs war Samuel Usque mit seinen Glaubensbrüdern im Rumpf der Esmeralda gefangen, einer Viermastbarke der Firma Mendes, die schon über eine Woche in der Hafenmündung von Antwerpen auf Reede lag. Nur dreizehn Tage hatte die Fahrt von Porto gedauert, mit fünfhundert Ballen Baumwolle, zweihundert Sack Pfeffer und hundertzwanzig Flüchtlingen an Bord. Doch kaum hatte der Segler Anker geworfen, um auf die Zuteilung eines Anlegeplatzes zu warten, war ein Ruderboot des Hafenkommandanten längsseits gegangen, und ein Offizier hatte verkündet, dass die Fracht gepfändet sei und niemand das Schiff verlassen dürfe. Wie bei einer Quarantäne patrouillierten fortan die Boote der Kommandantur in der Nähe der Esmeralda, bei Tag und bei Nacht, so dass es unmöglich war, an Land zu gelangen. Nicht mal an Deck konnten sich die Flüchtlinge wagen, ohne ihr Leben zu riskieren. Drei Tage und drei Nächte hatte Jona im Bauch des Fisches verbracht. Wie lange würde ihre Gefangenschaft dauern? Das Leben an Bord war die Hölle. Wie Vieh zusammengepfercht, hausten die Flüchtlinge im Zwischendeck, hundertzwanzig Menschen in einem weniger als mannshohen Raum von hundertfünfzig Fuß Länge und vierzig Fuß Breite, in dem nur eine blakende Öllampe für spärliches Licht sorgte. Von morgens bis abends und von abends bis morgens lungerten sie hier auf angefaulten Strohsäcken herum, die des Nachts als Schlafstätte und tagsüber als Sitzplätze dienten. Ständig gab es Streit. Ob Brot oder Zwieback, Dörrfleisch oder Stockfisch: Nach einer Woche vor Anker ohne frischen Proviant wurden die Vorräte knapp, und jeder nahm, was er kriegen konnte, gleichgültig, ob es sich um sein Eigentum oder das seines Nachbarn handelte. Das letzte Schaf an Bord war längst geschlachtet, nur die Hühner, die überall zwischen den Strohlagern herumflatterten und ihren Schmutz hinterließen, legten noch ein paar Eier. Trinkwasser gab es von der Hafenkommandantur lediglich für die achtzig Seeleute, die offiziell an Bord der Esmeralda waren. Deren Ration mussten sich nun mehr als doppelt so viele Menschen teilen. Die Latrine an Deck, die während der Reise als Abort gedient hatte, durfte niemand aufsuchen. Die Notdurft verrichtete man in Kübel, die von Matrosen widerwillig über Bord entleert wurden, und die Ausdünstungen, die das Zwischendeck verpesteten, waren schlimmer als der Gestank im Bauch eines Fisches. Als einziger Jude an Bord genoss Samuel Usque das Privileg, einmal am Tag in der Offiziersmesse zu speisen. Für den Kapitän und die Besatzung wurden regelmäßig frische Lebensmittel von Land gebracht, damit die Seeleute für die Dauer der Quarantäne versorgt wären. Trotzdem litt Samuel noch mehr als alle seine Glaubensbrüder. Denn Benjamin, sein kleiner Bruder, den er in Braga aus der Familie des Hutmachers gerissen hatte, um ihm den Namen und das Leben zurückzugeben, die er einst von seinen wahren Eltern bekommen hatte - Benjamin lag mit schwerem Fieber danieder.
    »Muss ... ich ... sterben?«, flüsterte er und starrte seinen Bruder mit glänzenden Augen an.
    Samuel fasste an seine Stirn. Benjamins Gesicht glühte, in nassen Strähnen klebte ihm das dunkle Kraushaar an den Schläfen. Zwei Tage vor der Ankunft in Antwerpen hatte das Fieber eingesetzt, erst ein Klappern, dann ein Glühen, dann ein Schwitzen. Ein eiternder Zahn, der ihm fürchterliche Schmerzen bereitete, war die Ursache. Seitdem war das Fieber ständig gestiegen, bis Benjamin schließlich, wie um seiner Qual zu entfliehen, in einen dumpfen, halb bewussten Dämmerzustand gesunken war, aus dem er nur für wenige Augenblicke erwachte, um sich schweißgebadet auf seinem Lager hin und her zu werfen. Und kein Arzt oder Chirurg war an Bord, der ihm Linderung verschaffen könnte. »Wir sind schon im

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