Die Gottessucherin
treten. Dom Diogo hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er selbst jeden Verräter zum Teufel jagen würde. Ein paar von ihnen, so hatte er Samuel gewarnt, kamen immer unter die Folter - das war die Regel ... Doch statt ihn zu bestrafen, hatte Dona Gracia ihn zu einem Wundarzt geschickt und ihm erlaubt, mit der Esmeralda nach Portugal zu fahren und nach seinem Bruder zu forschen. Das würde Samuel ihr nie vergessen.
»Adveniat regnum tuum; fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra.«
Auf den Bischof und die Prälaten folgten die Granden und Würdenträger der Stadt, und auf diese die barfüßigen Franziskaner, die Statuen aller möglichen Heiligen mit den Insignien ihres Martyriums auf den Schultern trugen. Samuel stellte sich auf die Zehenspitzen. Am Ende des braun gewandeten Heeres ragte schwankend die erste Zunftstandarte in den Himmel. Plötzlich kamen ihm Zweifel. Würde er seinen Bruder überhaupt wiedererkennen? Es war über vier Jahre her, seit er Benjamin zum letzten Mal gesehen hatte. Vor lauter Aufregung und Angst, ihn zu verpassen, glaubte er ihn in Dutzenden von Gesichtern zu erkennen, als die Handwerker, nach der Ordnung der Zünfte, im Sonntagsstaat und mit den Worten des Vaterunsers auf den Lippen, an ihm vorüberzogen: zuerst die Waffen- und Messerschmiede, dann die Leinen- und Wollweber, die Kerzenzieher und Wachsbleicher und schließlich, hinter dem Haufen der Sattler und Gerber - sein Herz setzte beim Anblick der Standarte für einen Schlag aus -, die Hutmacher. »Panem nostrum cotidianum da nobis hodie; et dimitte nobis de-bita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris.«
Samuel erkannte seinen Bruder sofort. Benjamin hatte sich kaum verändert, er hatte immer noch dasselbe braune Kraushaar und dieselben lachenden Augen. Nur größer und kräftiger war er geworden, und ein paar Pickel hatte er im Gesicht. Er musste jetzt dreizehn sein, in diesem Jahr hätte er die Bar-Mitzwa gefeiert, wenn er nicht ... Benjamin schaute ihm direkt ins Gesicht, doch ohne ihn zu erkennen. Hatte Samuel sich mehr verändert als er? Sie hatten früher ein Erkennungszeichen gehabt, den Käuzchenschrei, damit hatte Samuel seinen Bruder immer gerufen, wenn der irgendwo in den Gassen von Coimbra verschwunden war. Er faltete seine Hände vor dem Mund zusammen, um den Schrei nachzumachen, wie früher - da legte einer der Hutmacher seine Hand um Benjamins Schulter, und ohne Samuel zu beachten, kehrte sein kleiner Bruder ihm den Rücken zu, schaute zu dem Hutmacher auf und lachte ihn an, und der Hutmacher drückte ihn an sich, wie es nur ein Vater mit seinem Sohn tun konnte. Die Szene dauerte nur wenige Sekunden, doch aus ihr sprach eine solche Herzlichkeit, eine so innige Verbundenheit zwischen den beiden, dass Samuel seine Hände sinken ließ. »Et ne nos inducas in tentationem; sed libera nos a malo.« Den ganzen Tag lang verfolgte Samuel seinen Bruder, ohne sich zu erkennen zu geben. Er hatte erwartet, dass Benjamin unglücklich sei, ausgenutzt und misshandelt von einem kaltherzigen Edomiter. Aber das Gegenteil war der Fall. Der Junge schien noch nie so glücklich gewesen zu sein. Der Hutmacher hatte ihn nicht nur in seine Werkstatt, sondern auch in seine Familie aufgenommen. In der Kathedrale, während der Messe, saß Benjamin mit seinen neuen Geschwistern zwischen dem Mann und seiner Frau, kniff heimlich eine seiner Schwestern beim Beten in den Po und ahmte zusammen mit einem Bruder den Pfarrer auf der Kanzel nach, bis die Mutter die zwei mit einer Kopfnuss zurechtwies. Beim Mittagessen, das die Familie sich zur Feier des Tages in einer Gartenwirtschaft leistete, bekam Benjamin sogar eine doppelte Portion Fleisch, weil er von einer nicht satt wurde, und einen ganzen Becher Wein durfte er trinken, zum ersten Mal in seinem Leben, wie sein Ziehvater beim Anstoßen feierlich erklärte. Samuel konnte kaum glauben, was er doch mit eigenen Augen sah. Erleichtert und gleichzeitig verstört beobachtete er den Bruder, der inmitten der fremden Menschen so sorgenfrei und unbekümmert wirkte, und als er der Familie dann von der Wirtschaft heim zu einem kleinen, hübschen Haus im Hutmacherviertel folgte, beschlich ihn eine Frage, die ihn den ganzen Tag schon insgeheim verfolgte, ihn umkreiste und bedrängte und auf die er eine Antwort finden musste.
Hatte er überhaupt das Recht, Benjamin aus seinem Glück zu reißen?
Niemals hätte Samuel sich träumen lassen, in eine solche Gewissensnot zu geraten, doch als die
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