Die Gottessucherin
aller Waren, die der Firma Mendes gehören.« Gracia hob ihren Brief in die Höhe. »Wer von euch ist bereit, diese Forderung zu unterschreiben? Es geht um unser aller Recht! Um unser Recht auf freien Handel!«
Sie hatte am Morgen vor dem Thoraschrein in ihrer kleinen Synagoge Gott darum gebeten, sie die richtigen Worte finden zu lassen, um die Unterstützung der Kaufleute zu gewinnen. Jetzt blickte sie voller Spannung in die Runde. Hatten die Männer ihre Botschaft verstanden? Und waren sie bereit, ihr zu folgen? Manche wichen ihrem Blick aus, einige wiegten unentschlossen die Köpfe, doch die meisten nickten ihr zu, und es dauerte nicht lange, bis der Erste sich meldete.
»Ich!«, rief ein Gewürzhändler aus Lübeck. »Ich unterschreibe!« Kaum hatte er seinen Namen unter ihre Forderung gesetzt, riss ein Franzose ihm das Pergament aus der Hand. »Ich auch!« Gracia atmete auf, der Bann war gebrochen. Auf den Franzosen folgte ein Italiener, auf den Italiener ein Engländer, und wenig später tönte der Ruf in allen Sprachen Europas durch den Saal: »Ich auch! Ich auch! Ich auch!«
Während sich alle um den Brief drängten, fielen Zentnerlasten von Gracias Schultern. Seit Wochen hatte sie in Furcht und Angst gelebt - um die Zukunft der Firma ebenso wie um ihren Schwager. Zwar konnten sie mit Hilfe eines Wärters Nachrichten mit Diogo tauschen, aber nichts deutete darauf hin, dass man ihn freilassen würde. Gracia wusste nicht einmal, wer ihn eigentlich gefangen hielt. Der Kaiser? Oder die Regentin? Oder - Gott verhüte! - Cornelius Scheppering?
Gracia war nach Brüssel gereist, doch Karl war nicht in der Stadt gewesen, und seine Schwester Maria hatte sie nicht empfangen. Sie hatte sich sogar überwunden, die Ordensburg der Dominikaner aufzusuchen, um den Mönchen Geld anzubieten, aber bereits an der Pforte hatte man sie zurückgewiesen. Nun endlich kehrte ihre Zuversicht zurück. Die ganze Kaufmannschaft unterstützte sie! Gott hatte ihre Gebete erhört. Da wurde plötzlich die Glocke geschlagen. Sämtliche Köpfe fuhren herum. In der Mitte des Saals, gleich neben dem Richtblock, stand der Hafenkommandant. Den speckigen Dreispitz auf dem kahlen Schädel, eine Faust in der Hüfte, verlas Hans Suurbier mit rotem Gesicht eine Meldung. »Ab sofort ist für sämtliche Schiffe der Firma Mendes die Zufahrt zum Hafen von Antwerpen gesperrt. Sie dürfen weder ein- noch auslaufen, weder Handelswaren löschen noch welche an Bord nehmen. Ferner ist ihnen untersagt, sich der Stadt Antwerpen mehr als drei Seemeilen zu nähern. Bei Zuwiderhandlung hat das Hafenregiment Befehl, Gebrauch von den Waffen zu machen ...« Seine Worte gingen in einem empörten Protestgeschrei unter, und er hatte noch nicht zu Ende gelesen, als Gracia zu ihm eilte, um ihn zur Rede zu stellen.
»Die Schiffe der Firma Mendes haben das verbriefte Recht, im Hafen von Antwerpen anzulegen und ihre Ladung zu löschen.
Der Kaiser selbst hat das Privileg unterschrieben.«
»Im Hafen von Antwerpen gilt, was die Regentin sagt. Und sie hat anders entschieden. Kein Schiff der Firma Mendes darf mehr ein- oder auslaufen.« Er hielt den Befehl mit Marias Siegel für alle sichtbar in die Höhe. »Der Judenspuk hat ein Ende!«
Er wollte sich schon abwenden, da hielt Gracia ihn am Ärmel seiner Uniform zurück.
»Und wovon sollen wir den Zoll bezahlen, wenn wir keine Waren verkaufen können? Im Hafen liegen zwei Schiffe, die Esmeralda und die Fortuna, deren Ladung Ihr beschlagnahmt habt, für die Ihr aber trotzdem Zoll verlangt.«
»Das ist allein Eure Sorge«, erwiderte er. »Ich kann Euch nur den Betrag nennen. Die Firma Mendes schuldet der Kommandantur den Zoll für achthundert Sack Pfeffer und fünfhundert Ballen Baumwolle aus Porto sowie vierhundert Fässer Likörwein aus Madeira. Macht zusammen zweitausenddreihundert Dukaten. Die sind in zehn Tagen fällig.«
Niemand im Saal außer Gracia begriff, was die wirkliche Botschaft dieser Nachricht war. Durch den Befehl der Regentin war aus der Katastrophe, die bislang allein die Familie Mendes betraf, mit einem Schlag das Unglück Hunderter unschuldiger Opfer geworden. Jetzt ging es nicht mehr nur um die Schulden der Firma, auch nicht nur um die Freilassung ihres Schwagers Diogo -jetzt ging es außerdem um das Leben all der jüdischen Flüchtlinge, die auf den Schiffen aus Portugal festsaßen und nicht mehr an Land konnten. Obwohl Gracia von Menschen umringt war, überkam sie auf einmal das Gefühl entsetzlicher
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