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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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fliehen wollt?«, fragte Rabbi Soncino.
    »Mein Leben«, erwiderte Gracia. Und als spräche nicht ihr Mund, sondern ihr Herz, ohne nachzudenken und ohne die Zensur der Scham, fügte sie hinzu: »Ich habe sie beide geliebt ... Und ich habe sie beide verloren ...« »Von wem redet Ihr?«, fragte Rabbi Soncino. »Von meinem Mann«, flüsterte Gracia. »Und von seinem Bruder.«
    Rabbi Soncino holte tief Luft. »Wollt Ihr damit sagen - Ihr ... Ihr habt Dom Diogo
geliebt?«
    Schweigend sah Gracia zum Fenster hinaus auf den Markt. Ein bunter Hochzeitszug, angeführt von Lichtträgern, Spaßmachern und Musikanten, bewegte sich zwischen den Marktbuden hindurch in die Richtung der deutschen Synagoge, um Braut und Bräutigam zur Trauung zu geleiten. Während die Hochzeitsgesellschaft nach und nach in dem Bethaus verschwand, senkte sich der Schatten der Häuser unmerklich auf die Piazza herab. Rabbi Soncino sah Gracias Tränen und begriff. »Dann ist es also wirklich wahr ...« Eine Weile war in dem Raum nur sein schwerer Atem zu hören. »Trotzdem«, seufzte er, »Ihr dürft Euch nicht verweigern. Dafür seid Ihr nicht ausersehen. Gott hat Anderes, Größeres mit Euch vor.«
    »Wie könnt Ihr so etwas behaupten, wenn Ihr doch die Wahrheit wisst?«, erwiderte Gracia gequält.
    »Seid Ihr blind, dass Ihr die Zeichen nicht seht?«, fragte Rabbi Soncino. »Gott hat Euch Reyna geschenkt, Eure Tochter, obwohl Ihr schwer gesündigt hattet. Ihr habt in Lissabon das Erdbeben überlebt, und mit Euch alle Brüder und Schwestern, die im Vertrauen auf Euer Wort im Haus geblieben sind, statt ins Freie zu fliehen. Gott hat Euch die Kraft gegeben, Dom Francisco auf dem Totenbett einen Dienst zu erweisen, vor dem die meisten Männer entsetzt zurückgeschreckt wären, damit Euer Gatte als Jude sterben konnte. Und wenn Gott Euch nun dieses Erbe seines Bruders auferlegt, dann kann das nur eines bedeuten ...« »Der Herr hat mir zum zweiten Mal den Mann genommen, den ich liebe«, unterbrach Gracia seine Rede. »Er will mich strafen, weil ich gegen seine Gebote verstoßen habe.« »Wen Gott straft, den liebt er.« Rabbi Soncino war so erregt, dass er seine Hand auf ihre Schulter legte. »Begreift Ihr denn wirklich nicht? Mit dem Tod der beiden Männer, die Ihr so schmerzlich vermisst, will Gott Euch sagen, dass nicht länger andere Euer Schicksal bestimmen - Ihr selbst sollt Euer Schicksal in die Hand nehmen, um das Werk fortzusetzen, das Francisco und Diogo Mendes zusammen mit Euch begonnen haben.« Gracia wandte sich vom Fenster ab und blickte den Rabbiner durch den Schleier ihrer Tränen an. »Glaubt Ihr wirklich, der Herr hat mir vergeben? Nachdem ich solche Schuld auf mich geladen habe?«
    »Nein«, sagte Soncino, »das glaube ich nicht. Aber das Erbe, das Dom Diogo Euch hinterlässt, ist Gottes Auftrag, Eure Schuld am Volk Israel wiedergutzumachen. Wie steht im Talmud geschrieben? Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Ihr habt es in der Hand, Tausende von Menschenleben zu retten. Überlegt also gut, wie Ihr Euch entscheidet. Wenn Ihr wollt, dass unsere Glaubensbrüder in Antwerpen umsonst gestorben sind, dann schlagt das Erbe aus. Wollt Ihr aber Sühne tun, indem Ihr das Schicksal unseres Volkes wendet, dann müsst Ihr Dom Diogos Willen erfüllen und das Erbe annehmen.«
    Rabbi Soncino hatte die Worte mich solchem Nachdruck gesprochen, dass Gracia sich noch kleiner und erbärmlicher fühlte als zuvor.
    »Wie kann Gott so etwas wollen?«, fragte sie. »Ich bin nur eine Frau.«
    »Ja, Ihr seid nur eine Frau«, nickte Rabbi Soncino. »Aber schon einmal hat eine Frau das Schicksal der Juden gewendet - Esther, unsere Glaubensmutter. Als Frau des Perserkönigs vereitelte sie einen Mordanschlag auf unser Volk und verhalf unseren Glaubensbrüdern zur blutigen Rache.« Er nahm das Amulett in die Hand, Diogos Geschenk, das an ihrem Hals hing, um das Bildnis darauf zu betrachten. »Wisst Ihr, was der Name Esther bedeutet?«
    Gracia schüttelte stumm den Kopf.
    »>Ich, der Ich verborgen bim«, sagte Rabbi Soncino und schaute ihr in die Augen. »Damit ist die Verborgenheit Gottes in der Welt gemeint. Und diese Verborgenheit des Herrn ist die Folge einer Abwendung des Menschen vom Glauben.« Ein Schauer lief über Gracias Rücken, als sie seinen Blick erwiderte. Ja, auch sie hatte sich vom Glauben abgewandt, wieder und wieder, und auch vor ihr hatte Gott darum sein Antlitz verborgen. Die drei Sprüche der Halacha, die das Gerüst ihres Glaubens

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