Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Sklavin erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Blinde erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Krüppel erschaffen hast!«
    Als Gracia die Segenssprüche sprach, überkamen sie plötzlich Zweifel, und ihre Hände, die sie doch eben noch gewaschen hatte, fühlten sich so klebrig und unsauber an, als hätten sie seit Tagen kein Wasser mehr gespürt. Und wenn sie zehnmal aus dem Hause David stammte - nie und nimmer könnte Gott sie berufen haben, sein Volk aus der Knechtschaft zu führen ... Esther war eine Königin gewesen, kein gewöhnliches Weib wie sie! Während Gracia wie alle jüdischen Frauen im Morgengebet dem Herrn dafür dankte, dass er sie nach seinem Willen erschaffen habe, dankte jeder jüdische Mann mit demselben Gebet Gott dafür, dass er nicht als Frau geboren worden war. Eine Frau galt vor Gott so wenig wie ein Heide oder Sklave, ein Blinder oder Krüppel! Eine Frau, die vor Männern ihre Stimme erhob, nannte der Talmud sogar eine Hure, die ihr Geschlecht entblößte und mit ihrem Gestank die Luft verpestete!
    Gracia fühlte sich in ihren Zweifeln wie ein Insekt in einem Spinnennetz, als plötzlich die Tür aufging und Reyna hereintrat, ausgehfertig angezogen.
    »Du bist schon auf?«, fragte Gracia verwundert. »So früh?« »José holt mich ab«, erwiderte ihre Tochter. »Er will mit mir nach Murano fahren. Um mir die Gläser zu zeigen, die ihr gekauft habt, bevor sie nach Konstantinopel verschifft werden.« Als Gracia ihren Blick erwiderte, verzog Reyna das Gesicht zu einem so breiten Grinsen, dass ihre Mundwinkel bis an die Ohrläppchen reichten. Gracia wusste Bescheid. Wenn Reyna dieses Gesicht zog, gab es etwas, das ihre Tochter unbedingt loswerden musste.
    »Nun sag schon! Heraus damit, bevor du platzt!« »José hat mir versprochen, sich den scheußlichen Bart abzurasieren! Damit ich endlich sein Gesicht sehen kann, nicht nur seine Haare!«
    Gracia war gerührt über die Verliebtheit ihrer Tochter. »Bist du glücklich mit ihm?«, fragte sie.
    »Und wie!«, rief Reyna. »Ich kann gar nicht erwarten, dass wir endlich heiraten - ich meine:
wirklich
heiraten! Unter der Chuppa! Nicht in einer Kirche!« Unten im Haus klopfte es an der Tür.
    »Das muss er sein!« Sie nahm ihre Mutter in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. »Warte nicht mit dem Mittagessen! Wir kommen erst am Abend zurück!«
    Und schon war sie verschwunden. Gracia schaute ihr nach. Wie sehr freute sie sich darüber, dass Reyna endlich begriffen hatte, welcher Mann für sie bestimmt war. Und wie sehr freute sie sich über ihren Wunsch, nach dem Brauch ihrer Väter zu heiraten. Eine größere Freude könnte Reyna ihr gar nicht machen! Aber noch während sie sich vorstellte, wie sie ihre Tochter zur Chuppa führen würde, um siebenmal mit ihr den Baldachin zu umkreisen, verdunkelten sich ihre Gedanken.
    Wo sollten sie die Hochzeit feiern? Sollten Reyna und José sich in einem Hof verstecken, so wie sie selbst und Francisco sich hatten verstecken müssen, damit kein Christ sie sehen könnte, wenn der Rabbiner den Segen über sie sprach? Oder sollten sie ins Ghetto ziehen, damit sie keine Verfolgung zu fürchten hätten, wenn sie das Gesetz befolgten?
    Es war wie eine Erleuchtung.
    Was Gracia im Traum und in nächtlichem Grübeln verborgen geblieben war, stand auf einmal so klar und deutlich vor ihr wie eine in Stein gemeißelte Botschaft, offenbart durch den Wunsch ihrer Tochter. Alles Unglück, das sie selbst je verursacht oder erlitten hatte, von dem Frevel in ihrer Hochzeitsnacht bis hin zu Diogos Tod - stets war es aus ihrem verzweifelten Versuch erwachsen, in einer Welt nach dem Willen Gottes zu leben, in der die Erfüllung seines Gesetzes als Verbrechen galt. Daran würde sich nie etwas ändern: Solange sie in der Glaubensfremde bliebe, würde sie immer in Sünde und Schuld gefangen bleiben, auch wenn sie jedes Jahr zu Jörn Kippur Gott um die Entbindung von den Gelübden bat.
    Endlich wusste Gracia, welchen Weg der Herr ihr wies. Ja, sie war bereit, ihm zu gehorchen, das Erbe anzutreten, das er ihr auferlegt hatte. Wenn sie das Werk, das Francisco und Diogo begonnen hatten, fortsetzen wollte, musste sie es zu Ende zu führen. Ihr Großvater war für den Glauben gestorben - sie, seine Enkeltochter, würde ihren Glaubensbrüdern helfen, für den Glauben zu
leben.
Gracia trat an das Pult, auf dem ihr Schreibzeug lag.

Weitere Kostenlose Bücher