Die Gottessucherin
ausmachten, fielen ihr ein: Ich habe den Herrn beständig vor Augen ... Mach dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten ... Such ihn zu erkennen auf all deinen Wegen ... Sollte der Rabbiner wirklich recht haben? War ausgerechnet ihre Sünde gegen das Gesetz der Grund, warum Gott sie meinte? »Hört meine Worte, Gracia Mendes«, sagte Soncino mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, »Ihr seid die neue Esther, die Verteidigerin des Glaubens und Schutzherrin der Juden! Euer Auftrag ist es, unser Volk aus der Knechtschaft zu führen!«
8
Silbern spiegelte sich das Licht des Mondes in den nächtlich schwarzen Fluten des Canal Grande, der mit leisem Plätschern die Mauern des Palazzo Gritti umspülte. Längst waren die Schritte und Rufe in den Marmorfluren verhallt, die Kerzen in den Leuchtern erloschen. Alles schlief. Nur Gracia fand keine Ruhe. Aufgewühlt von dem Gespräch mit Rabbi Soncino, lag sie mit offenen Augen in ihrem Bett, und während sie auf die tanzenden Lichter und Schatten in den Spiegeln starrte, als wären sie Zeichen an der Wand, quälte ein Gedanke sie wie ein böser Alb. Sie sollte die neue Esther sein?
Solange sie zurückdenken konnte, hatte Gracia die wahre Esther bewundert, jene mutige Königin, die vor Tausenden von Jahren ihr Leben gewagt hatte, um ihre Glaubensbrüder vor der Ausrottung durch ihren Mann Ahasver zu bewahren. Doch die Vorstellung, dass sie nun in die Fußstapfen dieser Frau treten solle, erfüllte sie mit Schaudern. Zur Einhaltung von sechshundertunddreizehn Geboten und Verboten hatte sich das Volk Israel am Fuß des Berges Sinai verpflichtet, und sie, Gracia Mendes, hatte in ihrem Leben, obwohl erst fünfunddreißig Jahre alt, schon so viele dieser Gebote und Verbote verletzt... Sie hatte fremde Götter angebetet, sie hatte unkoschere Speisen gegessen, sie hatte den Sabbat geschändet. Sie hatte den Rabbiner und die Gemeindefrauenangelogen, sie hatte ihren Mann als Nidda empfangen. Und sie hatte dem Gatten ihrer Schwester beigewohnt ... Irgendwann kam endlich der Schlaf über sie. Aber statt sie in sein schwarzes, weiches Tuch zu hüllen, um sie in das Nirgendwo der Selbstvergessenheit zu entführen, bedeckte er sie nur mit einem zarten, durchsichtigen Schleier, nicht mehr als ein Hauch, der sie kaum von der Wirklichkeit zu trennen vermochte. Während der ganzen Nacht stiegen verwirrende Bilder aus dem Schattenreich der Seele in ihr auf, Gesichter ihrer Feinde, Gesichter ihrer Freunde, Gesichter von Menschen, die sie liebte und hasste, suchte und floh, von Esther und Ahasver, von Brianda und Cornelius Scheppering, von Reyna und Aragon, von Francisco und Diogo ... Leise lächelnd nickten sie ihr zu, die Guten wie die Bösen ...
Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt ... Die letzten Sterne waren noch nicht am Himmel verblasst, als Gracia die Augen aufschlug. Das Zwitschern der Vögel hatte sie geweckt, und als sie das Bett verließ, kündete ein zartes Morgenrot vom kommenden Tag. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich so erquickt, als sänge die Welt ein neues, unbekanntes Lied. Sie spürte eine Kraft in sich, als könnte sie Berge versetzen und sie dachte an ihre Mutter, an ihren Großvater, an ihre Abkunft aus dem Hause David. Eine Taube hockte vor dem Fenster und putzte gurrend ihr Gefieder. Sollte sie wirklich zu etwas Großem ausersehen sein? »Ich danke dir, lebendiger König, dass du mir voller Erbarmen meine Seele zurückgegeben hast.«
Mit dem ersten Segensspruch des Tages trat Gracia an die Waschkommode, um ihre Hände mit Wasser zu übergießen, zuerst die Rechte, dann die Linke, wie das Gesetz es verlangte. Jeder Schlaf barg einen kleinen Tod in sich, und um sich vom Atem der Unreinheit zu befreien, der ihrem leblosen Körper während des Schlafes angehangen hatte, musste sie ihre Hände vor jeder anderen Tätigkeit waschen, damit sie selbst aufs Neue erstehen konnte. Außerdem lagen im Schlaf die Hände niemals still. Träumend bewegten sie sich, um geheime Stellen des Körpers zu berühren. Erst nachdem sie sich davon gereinigt hatte, kleidete Gracia sich an und bedeckte ihr Haar mit einem Schleier für das Morgengebet.
»Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nach deinem Willen erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Heidin erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als
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