Die Gottessucherin
In einer Woche würde ein Schiff nach Konstantinopel auslaufen, mit Flüchtlingen aus Lissabon und den Glaswaren aus Murano. Sie nahm die Feder, tauchte sie in das Tintenfass, und erfüllt von jener Ruhe und Sicherheit, die nur die Gewissheit des Glaubens zu spenden vermag, schrieb sie einen Brief an ihren alten Freund Amatus Lusitanus.
9
Zarte Nebelschleier, durchwoben von glitzernden Sonnenfäden, schwebten lautlos über der Lagune, bauschten sich unter den Brücken über den Wasserstraßen, wellten und kräuselten sich in die Höhe und umschmeichelten die Fassaden der Häuser, Kirchen und Paläste, als wollten sie die ganze Stadt in einen Zauber hüllen.
»Wohin führt Ihr mich?«, fragte Tristan da Costa.
»Fragt nicht«, erwiderte Brianda. »In Venedig ist man überall am Ziel.«
Am frühen Morgen - die Glocken der Basilika läuteten gerade zum ersten Hochamt -, hatte Tristan sie in ihrem Palazzo abgeholt. Er kümmerte sich inzwischen um ihre Finanzen, sorgte dafür, dass ihre Mitgift Zinsen trug, und regelte die Zahlungen, die sie ihren Gläubigern schuldete. Doch heute ging es weder um Geld noch um Geschäfte. Heute ging es um etwas, das Brianda viel wichtiger war. Sie wollte Tristan etwas beweisen. Sie wollte ihm die Augen für Dinge öffnen, die er zwar schon viele Jahre länger kannte als sie, die er aber offenbar noch nie mit Verstand gesehen hatte.
Über eine Stunde hatte sie mit der Wahl ihrer Garderobe verbracht. Schließlich hatte sie sich, trotz der herbstlichen Kühle, für ein ausgeschnittenes Kleid aus aprikosefarbenem Samt entschieden, und obwohl sie eine Jüdin und noch dazu Witwe war, hatte sie auf ein Tuch verzichtet und trug ihr braunes Lockenhaar offen wie eine Venezianerin. Um einen Streit mit ihrer Schwester zu vermeiden, hatte sie gewartet, bis Gracia aus dem Haus war, bevor sie mit der Toilette begonnen hatte. Tristan, der wie stets in der Stadt seinen gelben Judenhut trug, hatte nicht zu erkennen gegeben, ob ihm gefiel, was sie trug, oder ob er an ihrer Kleidung Anstoß nahm.
»Habt Ihr so etwas Schönes schon mal gesehen?«
Sie hatten den Palazzo Sagredo erreicht, von wo aus man über das Wasser hinweg auf die Pescaria blickte. Obwohl das Gebäude nur eine Fischhalle war, in der dreimal die Woche Markt gehalten wurde, sah es mit seinen im Nebel schimmernden Arkaden und Pilastern aus wie ein verwunschenes Märchenschloss.
»Sehr schön, gewiss«, erwiderte Tristan. »Trotzdem - ich mag diese Stadt einfach nicht. Überall nur Marmor und Gold.«
Brianda konnte es nicht fassen - wer Venedig nicht liebte, der liebte das Leben nicht! Schon mehrere Male hatten sie darüber gestritten, aber Tristan war nicht von seiner Meinung abzubringen. Ihm war das Ghetto mit seinen finsteren Wohnkäfigen entschieden lieber als der Markusplatz samt Basilika und Dogenpalast. Gottesglaube und irdische Pracht, behauptete er, vertrügen sich nicht miteinander. Um ihn eines Besseren zu belehren, zeigte Brianda ihm nun die Stadt. Das Leben war ein wunderbares Geschenk, und nirgendwo sonst auf der Welt war der Gabentisch der Schöpfung bunter und reicher gedeckt als in Venedig. Was sollte Gott daran auszusetzen haben? Auch wenn all die Herrlichkeiten von Menschen erschaffen waren, hatte Gott sie doch gewollt und zugelassen! In den Werken der Kunst bekamen sie eine Vorstellung von seinem Paradies!
Sie hatten das Reiterdenkmal vor der Johannes-und-Paul-Kirche besichtigt, das Goldene Haus und die Scuola di San Rocco mit ihren Gemälden. Sie waren auf den Uhrenturm gestiegen und auf den Campanile, auf dessen nebelumwölkter Plattform Brianda sich wie im Himmel gefühlt hatte. Sie hatten am Rialto Fisch gegessen und Wein getrunken, zu den Klängen einer Zigeunerkapelle. Doch es war zum Verzweifeln. Störrisch wie ein Maulesel weigerte Tristan sich, wahrzunehmen, was er doch mit eigenen Augen sah.
»Glaubt Ihr, dass der Nebel sich heute noch auflöst?«, fragte er. Brianda schaute zum Himmel. Obwohl die Sonne, wie sie durch den Dunst erkannte, längst im Zenit stand, schien sie nicht mehr genügend Kraft zu haben. »Vielleicht - vielleicht auch nicht«, sagte sie. »Aber ist das so wichtig?«
»Allerdings. Wenn wir nicht aufpassen, verirren wir uns noch.« »Umso besser. Die schönsten Stellen findet man sowieso nur dann, wenn man sie nicht sucht.«
»Ihr gebt wohl nie auf«, seufzte er. »Aber ich warne Euch: An mir beißt Ihr Euch die Zähne aus. Von Kunst verstehe ich rein gar nichts.«
»Was
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