Die Gottessucherin
Sorgen war ein dunkler, böser Verdacht, der sich tief in ihrem Herzen regte. Hatte der Mann, mit dem sie nie hatte leben wollen, den sie nur auf Gracias Drängen hin geheiratet hatte - hatte dieser Mann sie mit ihrer eigenen Schwester betrogen? Brianda wusste nur einen Menschen, der ihr darauf Antwort geben konnte: Tristan da Costa. Er war nicht nur Diogos Agent gewesen, sondern auch sein Freund und Vertrauter.
Am ersten Sonntag nach Eröffnung des Testaments machte sie sich auf den Weg. Der Sonntag war die einzige Möglichkeit, um mit Tristan zu sprechen. Während der Woche arbeitete er tagsüber im Kontor der Firma an Gracias Seite und verschwand am Abend hinter den Mauern des Judenviertels, dessen Tore sich nach dem Ave-Läuten bis zum nächsten Morgen schlössen, bewacht von vier christlichen Wächtern sowie von zwei Booten, die in der Nacht auf den Kanälen rund um das abgegrenzte Quartier patrouillierten, so dass kein Hinein- oder Hinauskommen möglich war.
Kaum hatte Brianda den Ponte di Ghetto Vecchio überschritten, die mit einem Tor bewehrte Brücke, die ins Judenviertel führte, betrat sie eine andere Welt. Der glanzvolle venezianische Luxus, alle Schönheit, Kunst und Pracht der Lagunenstadt schienen aus dem umschlossenen Quartier verbannt. Statt marmorner Kirchen und Paläste erhoben sich links und rechts schmucklose Synagogen und Bankgebäude, Ladengeschäfte und Werkstätten, die auf einen eigenartig gekrümmten, viereckigen Platz führten, wo es von Menschen wimmelte, als würden im Ghetto dreimal so viele Frauen und Männer, Kinder und Greise auf einer Fläche leben wie in der übrigen Stadt. Alles schien überzuquellen, die Häuser ebenso wie die Gassen, die hier die Wasserstraßen ersetzten. Die schmalen, schäbigen Gebäude drängten sich aneinander und türmten sich, ein Stockwerk bedrohlich über das andere gesetzt, in den blauen Himmel, steinerne Wohnkäfige, um den fast tausend Juden Unterkunft zu bieten, die beschlossen hatten, ihr Leben auf dieser Seite der Mauer zu führen. Brianda musste sich überwinden, um in dem Gewimmel ihre Schritte voreinander zusetzen. Der ganze Platz war übersät mit Buden, an denen levantinische Trödler mit ihren Kunden um verbeulte Töpfe oder getragene Lumpen feilschten. In verbissenem Ernst und ohne eine Spur jener heiteren Fröhlichkeit, die auf den anderen Märkten Venedigs herrschte, verhandelten sie in kehlig krächzenden Sprachen, die Brianda ihr Lebtag nicht gehört hatte. Männer, in dunkle Gewänder aus grob gewebtem Leinzeug gehüllt, die bis zum Boden reichten und durch den Staub schleiften, die Gesichter verhüllt von Barten und Schläfenlocken, die unter ebenfalls dunklen Kappen hervorschauten, eilten mit hebräischen Büchern unter dem Arm an ihr vorbei. Keine einzige Frau wagte es in ihrer Gegenwart, das Kopfhaar offen zu tragen, so wenig wie bunte Kleider. Vermummt in schwarze, unansehnliche Gewänder wie die Männer, huschten sie zwischen den Buden hin und her, um koscheres Fleisch oder Brot zu kaufen. Nicht ein Gesicht, das lachte oder lächelte, auch nicht, als Brianda sich nach dem Haus erkundigte, in dem Tristan wohnte. Drei Frauen musste sie ansprechen, bis eine zahnlose Alte sich fand, die ihre Sprache verstand und ihr widerwillig Auskunft gab. Brianda konnte sich unmöglich vorstellen, in diesem Ghetto zu leben, in dieser bedrückenden, nach faulem Gemüse und Fisch stinkenden Enge, umgeben von all den frommen Eiferern, die von der Galle ihres Gottesglaubens genauso vergiftetschienen wie die fanatischsten Dominikaner, die ihr nicht weniger unheimlich waren als diese. Warum nur hatte Tristan sich entschieden, in einer so freudlosen, beängstigenden Welt zu wohnen?
Sein Haus, das auf der anderen Seite des Platzes lag, unterschied sich nur wenig von den Nachbargebäuden, und Brianda musste ein halbes Dutzend Treppen emporsteigen, bis sie endlich seine Tür fand.
»Dona Brianda?«, rief er überrascht, als er sie sah. »Was führt Euch her?«
»Ich brauche Euren Rat.«
Tristan zögerte. Hatte er Angst, eine Frau in seine Wohnung zu lassen? Brianda wusste, er war auch früher schon in Glaubensdingen ziemlich streng gewesen, und obwohl er allein im Haus gewesen war, trug er eine Kappe, um sein Haupt zu bedecken. Doch statt sie zurückzuweisen, machte er einen Schritt beiseite. »Bitte, tretet ein.«
Während er die Tür hinter ihr nur so weit schloss, dass ein Spalt offen blieb, schaute Brianda sich um. Die Wohnung schien nur aus
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