Die Gottessucherin
machte eine Pause, während er wieder seine Schläfenlocken durch die Fingerspitzen gleiten ließ. »Doch was ist mit Euch?«, fragte er. »Könnt Ihr Eurer Schwester verzeihen?«
»Was soll ich ihr denn vorwerfen?«, erwiderte Brianda leise. »Ihre Liebe zu ihrem Mann?« Obwohl der Kloß in ihrem Hals ihr fast die Kehle zudrückte, schüttelte sie den Kopf. »Nein, wenn ich an Gracias Stelle gewesen wäre, hätte ich genauso gehandelt wie sie.«
Während sie den Kloß hinunterwürgte, stand sie auf und reichte Tristan die Hand.
»Ihr habt mir eine schwere Last von den Schultern genommen. Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet.« »Was redet Ihr da, Dona Brianda? Ich bin glücklich, dass ich Euch helfen durfte.«
Die Arme auf dem Rücken verschränkt, blickte er sie unschlüssig an. Hatte er Angst, sie zu berühren? Doch dann überwand er sich und ergriff ihre Hand.
»Ihr sollt wissen, dass ich stets für Euch da bin, wann immer Ihr mich braucht.«
Mit einem Lächeln schaute er ihr in die Augen, und als er den Druck ihrer Hand erwiderte, genauso verlegen und rot im Gesicht wie sie selbst, wurde ihr für einen Moment ganz flau. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie diesen Mann geheiratet hätte?
7
»Ich möchte das Erbe ausschlagen«, sagte Gracia.
»Das geht nicht«, erwiderte Rabbi Soncino, »alle Welt weiß, dass Ihr Dom Diogos Nachfolgerin seid.«
»Ja, aber nur weil Dom José es hinausposaunt hat, ohne mich zu fragen. Meine Schwester ist Dom Diogos Witwe - ihr, nicht mir, sollte alles gehören.« Sie drehte sich zu Soncino um. »Was verlangt das Gesetz, Rabbiner? Muss ich das Testament erfüllen? Oder habe ich das Recht, es abzulehnen?« »Es steht geschrieben: Die Weisen finden an dem kein Wohlgefallen, der das Recht der Thora umgeht. Und da Dom Diogo in seinen Verfügungen selbst vom Gesetz abgewichen ist, seid Ihr frei in Eurer Entscheidung. Aber - wer sollte die Firma Mendes leiten ?« »Dom José, er ist alt und erfahren genug. Außerdem würde ihm Tristan da Costa zur Seite stehen.«
»Ihr wisst, dass die zwei Euch nicht ersetzen können. Schließlich steht nicht nur das Geschäft auf dem Spiel, sondern auch das Schicksal unserer Glaubensbrüder. Oder ist Euch das gleichgültig geworden?«
Gracia schüttelte den Kopf.
»Seht Ihr?« Soncino verließ sein Schreibpult und machte einen Schritt auf sie zu. »Sagt, was ist der Grund Eurer Zweifel?« Gracia zögerte. Sollte sie dem Rabbiner die Wahrheit sagen? Sie hatte Soncino im Ghetto aufgesucht, im Lehrhaus der portugiesischen Gemeinde, um ihn um Rat zu bitten. Seit sie den Inhalt des Testaments kannte, war sie so durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Wie ein Mühlstein hing das Erbe um ihren Hals. Sie hatte ihre Schwester betrogen, ihr den Mann genommen, den sie ihr selbst aufgezwungen hatte -und war nun, nach seinem Tod, in den Besitz eines Vermögens gelangt, um das selbst Fürsten und Könige sie beneiden würden. Und was tat Brianda? Statt gegen dieses himmelschreiende Unrecht aufzubegehren, statt sie aus ihrem Palast zu werfen, fügte sie sich in ihr Schicksal.
»Ich habe alles falsch gemacht«, sagte Gracia leise.
»Ihr habt Euch bemüht, so gut ein Mensch es eben vermag«, entgegnete Rabbi Soncino.
»Ihr wisst ja nicht, wovon Ihr redet! Ich bin schuld an Dom Diogos Tod!«
»Nein«, widersprach er, »es war Gottes Wille. Alles andere ist anmaßende Selbstüberhebung.«
»Und die Verfolgung unserer Glaubensbrüder in Antwerpen?«, fragte Gracia. »Das war Aragons Rache - für meine Tat. Weil ich mich geweigert habe, Reyna zu opfern, statt Abrahams Beispiel zu folgen.«
»... der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; gelobt sei der Name des Herrn!«
Gracia kehrte dem Rabbiner den Rücken zu. Sie waren allein in dem Lehrhaus, die Thoraschüler, die Soncino in dem niedrigen, verwinkelten Tonnengewölbe unterrichtete, waren schon fort gewesen, als Gracia an seine Tür geklopft hatte. Alles in dem Raum: die Bücher und Schriftrollen, die Holzbänke, die Schreibpulte mit den Öllampen - alles atmete den Geist der Gelehrsamkeit, des steten und ernsthaften Bemühens, die Worte der heiligen Schriften zu studieren, um den Willen des Herrn zu begreifen und ihm Genüge zu tun.
»Wie ich Euch beneide«, sagte Gracia. »Ich wollte, ich könnte auch so leben wie Ihr, hier im Ghetto, abgeschieden von allem Lärm, um mich den Studien zu widmen.«
»Was quält Euch so sehr, dass Ihr vor der Welt
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