Die Gottessucherin
Hirschhäuten und Lammfellen, Kaviar und Stör. Doch Herbst und Winter zogen ins Land, ohne dass eine Antwort vom Bosporus eintraf, und Gracia musste sich bis zum März gedulden, bis der Kapitän der Fortuna an einem sonnigen Dienstag im Kontor der Firma erschien, um ihr, den Dreispitz unterm Arm, den lange erwarteten Brief ihres Freundes auszuhändigen.
»Von Amatus Lusitanus?«, fragte José. »Was schreibt er? Hat er genug von den Türken und will wieder nach Europa zurück?« Gracia hatte niemanden in ihre Pläne eingeweiht. Es hatte keinen Sinn, über Auswanderung zu sprechen, bevor sie verlässliche Auskunft hatte - das hätte nur Unruhe in die Firma und in die Familie gebracht. Doch jetzt war die Entscheidung gefallen. Ungeduldig erbrach sie das Siegel und überflog die Zeilen. Nach nur wenigen Sätzen hielt sie den Atem an. Der Sultan wäre glücklich, schrieb Amatus Lusitanus, wenn das Haus Mendes sich mit seinem Vermögen in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches ansiedeln würde. Falls Gracia es wünsche, erkläre Süleyman der Prächtige sie schonjetzt zu seiner Untertanin und biete ihr Geleitschutz an.
»Ich muss nach Hause«, sagte Gracia.
»Jetzt?«, fragte José. »Wir wollten doch über die zweihunderttausend Dukaten sprechen, die Kaiser Karl uns noch schuldet. Ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir das Geld doch noch wiederbekommen können. Karl ist in Regensburg, um Truppen für einen Feldzug zu sammeln, und mein Freund Maximilian sollte auch bald dort sein. Wenn ich nach Deutschland fahre, kann ich vielleicht mit seiner Hilfe ...«
»Ein andermal!«, sagte Gracia und ließ ihn stehen. Eine halbe Stunde später war sie im Palazzo Gritti, um Brianda die frohe Botschaft zu überbringen. Monatelang hatte sie gehofft und gebangt. Jetzt stand ihren Plänen nichts mehr entgegen. Doch sie hatte die Rechnung ohne ihre Schwester gemacht. »Niemals!«, erklärte Brianda. »Ich will nicht zu den Muselmanen! Das sind doch Barbaren!«
»Du redest, als würdest du es nicht besser wissen. Der Sultan ist ein Freund der Juden. Sein Reich ist das einzige Land, in dem wir unseren Glauben ausüben können, ohne um unser Leben zu fürchten.«
»Dafür soll ich ans andere Ende der Welt reisen? In ein wildfremdes Land? Nur damit du ungestört den Sabbat feiern kannst?« »Darum geht es doch gar nicht! Es geht darum, Tausende von Menschen vor dem Tod zu retten. Hier in Venedig können wir das nicht. Hier müssen wir immer damit rechnen, dass sie uns die Inquisition auf den Hals hetzen. In Konstantinopel dagegen unterstützt uns der Sultan. Amatus schreibt, dass er alle Juden mit offenen Armen empfängt, die in seinem Reich Zuflucht suchen.« »Nein, nein und nochmals nein!« Brianda schüttelte so heftig den Kopf, dass eine goldene Spange aus ihrem Haar fiel. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst dein Haar bedecken, wie es sich für eine anständige Jüdin gehört, statt mit offenen Haaren herumzulaufen wie eine Hure!«, rief Gracia gereizt.
»Was gehen dich meine Haare an? Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden, was ich tue. Und darum sage ich dir: Nein - ich gehe nicht fort! Venedig ist die schönste Stadt, die ich kenne. Ich will hierbleiben!« Sie hob die Spange auf, und während sie ihr Haar wieder feststeckte, fügte sie hinzu: »Ich bin die ewige Flucht leid, Gracia. Wir hatten es so gut in Lissabon, aber ich durfte nicht bleiben. Dann hast du mit Diogo beschlossen, auch Antwerpen zu verlassen. Durch ganz Europa sind wir davongelaufen, immer wieder. Wovor eigentlich? Vor dem Teufel? Vor Gott? Vor den Menschen? - Nein!«, wiederholte Brianda, bevor ihre Schwester etwas sagen konnte. »Ich will endlich mein eigenes Leben führen, so wie es mir passt, zusammen mit La Chica und ...« - sie machte eine Pause, bevor sie weitersprach - »... und mit Tristan da Costa.«
»Tristan da Costa?«, fragte Gracia irritiert. »Was hat der damit zu tun?«
Brianda schaute verlegen zu Boden. »Kannst du dir das nicht denken?«, fragte sie leise.
Gracia begriff. »Daher weht also der Wind!«, rief sie. »Triffst du dich etwa heimlich mit ihm? Hinter meinem Rücken? Wenn du den lieben langen Tag in der Stadt herumstreichst und die Zeit vertrödelst?«
»Nein, Tristan weiß noch gar nichts von meinen Wünschen. Er hat auch noch nicht um meine Hand angehalten. Er berät mich nur in meinen Geschäften.«
Doch Gracia hörte ihr gar nicht zu. »Jetzt wird mir einiges klar!«, sagte sie. »Für Tristan
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