Die Gottessucherin
der Heimat zu überbringen, um im Namen ihres Großvaters einen Versuch zur Versöhnung zu machen, und Gracia hatte eingewilligt, sie heute zu besuchen. Wenn Brianda erführe, dass die Inquisition ihren Vater umgebracht hatte, würde sie bestimmt begreifen, dass es wichtiger war, Menschen, die in ähnlicher Not waren wie er, zu helfen, statt hübsche Kleider zu tragen. Und vielleicht würde sie den verfluchten Prozess beenden, indem sie ihre Klage vor Gericht zurückzöge und sich Gracias Willen fügte.
»Ich tue nur, was die Pflicht eines jeden Juden ist«, sagte sie. »Und steht bitte auf, Joshua Montales. Ihr müsst Euch beeilen. Die Matrosen setzen schon die Segel.«
Geduldig half sie dem Greis, in einen Jutesack zu schlüpfen. Sobald er darin verschwunden war, hängten zwei Schauerleute den Sack an den Flaschenzug, der über der Luke angebracht war, dann gab Duarte dem Ausleger einen Stoß, der Baum schwang ins Freie, und während Joshua Montales in schwindelnder Höhe über der Fortuna baumelte, ließ Duarte ihn am Seil des Flaschenzugs langsam hinunter an Deck. Bei dem Anblick drehte Gracia sich der Magen um. Die Luke befand sich oberhalb der Schiffstakelage, und ihr selbst wurde schon schwindlig, wenn sie aus dem zweiten Stockwerk ihres Palastes sah. »Soll ich das Zeichen geben?«, fragte Duarte, als der letzte Flüchtling an Bord war.
Gracia nickte. Mit einer Flagge signalisierte ihr Agent dem Kapitän, dass die Fortuna ablegen konnte. Während Duarte die Uhrzeit in das Hauptbuch eintrug, holten die Matrosen die Leinen ein, und gleich darauf fielen die Segel von den Masten und blähten sich im Wind. Lautlos, kaum merklich, bewegte sich der riesige Rumpf des Schiffes fort vom Kai. Obwohl der Hafenkommandant ein üppiges Bestechungsgeld bekommen hatte, fiel Gracia ein Stein vom Herzen. Mit jeder Handbreit Wasser, die den Segler vom Ufer trennte, wuchs die Sicherheit ihrer Schützlinge. In zwei Wochen würden sie in Konstantinopel sein. Der Viermaster hatte schon die Landspitze am Ende des Kanals erreicht, da hörte Gracia eilige Schritte. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie José mit rotem Kopf auf sie zustolperte. »Gott sei Dank, Ihr seid noch da!«, keuchte er. »Was ist passiert? Du bist ja ganz außer Atem!« »Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen! Ihr müsst fliehen! Samuel wartet unten mit einem Boot.«
Gracia kannte ihren Neffen gut genug, um zu wissen, dass höchster Alarm herrschte. Ohne weitere Fragen zu stellen, ließ sie alles stehen und liegen und folgte ihm zur Tür hinaus. Doch sie hatten noch nicht den Treppenabsatz erreicht, da dröhnten ihnen von unten schwere Stiefelschritte entgegen. »Zum Teufel!«, fluchte José. »Das müssen sie sein!« Gracia kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Im Dämmerlicht erkannte sie den Helmbusch eines Offiziers, der sich im Sturmschritt die Treppe heraufbewegte. »Und jetzt?«
»Es gibt nur einen Ausweg! Zurück zur Luke! Ich bleibe hier und halte sie auf! Samuel weiß, wo wir uns treffen! Ich komme mit Reyna nach!«
Während José seinen Degen zog, raffte Gracia ihre Röcke, und wenige Augenblicke später stand sie über dem Abgrund. Als sie in die Tiefe hinabschaute, wurde ihr so schwindlig, dass sie sich mit beiden Händen festhalten musste. »Das schaffe ich nie!«
»Ihr müsst!«, sagte Duarte und schlang ein Seil um ihre Taille. Unten im Wasser spiegelten sich die ersten Lichter des Abends. Ein Ruderboot, klein wie ein Spielzeug, näherte sich flussabwärts dem Speicher. Das musste Samuel sein! Wie Charon, der Fährmann, der die Toten über den Hades leitet, glitt er mit seinem Boot über den Kanal ... »Aus dem Weg!«
Gracia fuhr herum. Ein Offizier rannte mit blankem Degen auf José zu. Mit einem Ausfallschritt parierte ihr Neffe den Angriff. Im nächsten Moment fielen die beiden übereinander her, so schnell, dass Gracia ihre Körper nicht unterscheiden konnte. Blitze zuckten, als die Klingen aufeinanderschlugen, Blut spritzte auf den Boden. »Aufgepasst!«, schrie Duarte.
Im selben Moment gab er Gracia einen Stoß, der Ausleger schwenkte ins Freie, und gleich darauf hing sie baumelnd in der Luft, unter ihren Füßen nichts als den gähnenden Abgrund, während der Abendwind ihre Röcke blähte.
20
Zur gleichen Zeit besuchte Reyna ihre Tante im Palazzo Gritti. »Wie schön, dich zu sehen«, rief Brianda. »Lass dich umarmen.« Reyna machte einen Schritt zurück, um ihr auszuweichen. »Großvater ist tot«, sagte sie.
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