Die Gottessucherin
Rabbiner richtete seinen grauen Blick auf den Handelsagenten, und ohne mit der Wimper zu zucken, sprach er: »Geh und handle so, wie es im Talmud geschrieben steht: Wenn dich jemand töten will, komm ihm mit der Tötung zuvor.«
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Von all diesen Dingen wusste Gracia nichts, als sie in dem großen leeren Ehebett lag und mit pochendem Herzen darauf wartete, dass Francisco in die Schlafkammer käme. Es war das erste Mal, dass sie nicht in ihrem Elternhaus übernachtete, und noch nie hatte sie sich so verloren und verlassen gefühlt wie in diesem neuen, fremden Heim.
In ihrer Einsamkeit ging ihr immer wieder eine Geschichte aus der Thora durch den Kopf, die Geschichte von Raheis Hochzeit. Raheis Vater hatte dem Bräutigam anstelle der Braut deren Schwester in der Hochzeitsnacht zugeführt. Warum hatte ihr Vater das nicht auch getan?
Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. Sonst drang kein Laut mehr zu dieser späten Stunde von der Rua Nova dos Mercadores herauf, der größten und vornehmsten Straße im Herzen der Stadt, an der Grenze zum alten Judenviertel, wo es bei Tage vor lauter Geschäftigkeit summte wie in einem Bienenstock. Trotz der lauen Nachtluft fröstelte Gracia. Wäre wenigstens Brianda bei ihr! Sie sehnte sich nach einem vertrauten Menschen, nach einem Körper, an den sie sich schmiegen, nach einem Arm, der sie schützen und bergen könnte. Rabbi Soncinos Worte bei der Trauungszeremonie fielen ihr wieder ein: »Wenn sich aber Mann und Frau verbinden, dann werden sie ein Leib und eine Seele. Da wird der Mensch eins, vollkommen und ohne Makel, gleich Gott ...« Die Worte hatten sie so sehr ergriffen, dass sie hatte weinen müssen.
Ob Diogo Mendes wohl eine Braut hat? Sie hatte keine Antwort bekommen.
Plötzlich füllte Gracias Seele sich mit Empörung. Was bildete Francisco Mendes sich ein, sie so lange warten zu lassen! Stand nicht geschrieben: »Und Moses verließ den Berg und ging dem Herrn entgegen«? Wenn sie sich vorstellte, sie würde diesen Mann tatsächlich lieben, wie würde sie sich jetzt grämen ... Er hatte mit dem Rabbiner und Tristan da Costa die Hochzeitsgesellschaft verlassen, gleich nachdem der fremde Gast so plötzlich verschwunden war. Nicht mal den Mitzwa hatte er mit ihr getanzt, obwohl das seine Pflicht gewesen wäre - alle Gäste hatten sie bedauert. Sie war wütend und spürte gleichzeitig das leichte Ziehen in ihrem Schoß, während sich die Spitzen ihrer Brüste verhärteten.
Sollte sie Francisco gleich sagen, dass er sie nicht berühren dürfe? Oder sollte sie warten, bis er sich ausgezogen hätte? Bisher hatte sie es vermieden, sich genaue Gedanken über diese Nacht zu machen - sie hatte ja nur eine sehr vage Ahnung davon, was sie erwartete. Würde Francisco zuerst mit ihr reden, oder würde er gleich versuchen, sie zu umarmen? Die verheirateten Frauen glucksten immer vor Aufregung, wenn sie über ihre Ehe tuschelten, und bekamen rote Wangen, aber mit diesen Weibern hatte sie nichts gemein. Als Kind hatte sie einige Male nackten Jungen beim Baden im Fluss zugeschaut, zusammen mit Brianda, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Zipfel Fleisch zwischen ihren Beinen ihr größere Lust verschaffen würde als sie sich selbst, wenn sie sich in manchen Nächten heimlich berührte. Wäre ihre Mutter noch am Leben, hätte sie mit ihr darüber sprechen können, was Männer von ihren Frauen wollten. Doch ihre Mutter war an Fleckfieber gestorben, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war - nur wenige Monate nachdem sie ihr von der Zwangstaufe der Juden auf der Praca do Rossio berichtet hatte.
Sollte sie vielleicht das Licht löschen, bevor Francisco in die Kammer käme? Nein, sie hatte keinen Grund, sich zu verstecken. Sie wollte dem Mann, der sie in die Ehe gezwungen hatte, in die Augen sehen, wenn sie ihn zurückwies. Sie freute sich schon jetzt auf sein Gesicht, auf sein Entsetzen, wenn sie das eine, entscheidende Wort aussprach: Ich bin eine
Nidda ...
Sie berührte sich zwischen den Schenkeln, um zu prüfen, ob sie noch blutete. Ihre Schamlippen waren ein wenig feucht, aber sie war nicht sicher, was für eine Flüssigkeit das war. Ein Schauer, den sie noch nie verspürt hatte, rann ihren Rücken herunter. Und dann hatte sie eine Idee. Sie wollte Francisco Mendes nackt empfangen! Je mehr er sie begehrte, umso schmerzlicher würde ihn die Zurückweisung treffen. Sie verließ das Bett und zog ihr Hemd über den Kopf.
Als sie aufschaute, erblickte sie im Spiegel an der Wand
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