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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihre Gestalt, weiß und schimmernd im Kerzenlicht. Befremdet von ihrem eigenen Anblick hielt sie inne. Ihr war, als würde sie ihren Körper zum allerersten Mal sehen. Sie trat näher an den Spiegel heran, um sich zu betrachten. Es war der feste, straffe Körper eines Mädchens. Bis heute war er ihr so selbstverständlich gewesen, dass sie ihn kaum beachtet hatte. Wenn überhaupt, dann hatte sie ihn eher als lästig empfunden, als zu klein und zu eng für die vielen Empfindungen, die sich in ihm drängten. Doch immer hatte er nur ihr gehört, ihr ganz allein. Und jetzt wollte ein Mann ihn besitzen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Mit beiden Händen strich sie über das glatte, unberührte Fleisch, wie um seine Unversehrtheit zu bewahren. Warum hatte sie sich nicht einfach geweigert, in die Mikwa zu gehen ? Ohne das Reinigungsbad hätte Rabbi Soncino sie niemals unter die Chuppa gelassen.
    Aber den Mut hatte sie nicht gehabt, es wäre offener Ungehorsam gewesen, gegen den Willen ihres Vaters und den der Gemeinde.
    Plötzlich hörte sie eine Stimme, ganz nah an ihrem Ohr. »Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du!« Gracia zuckte zusammen. Hinter ihr im Spiegel stand Francisco. Er trug nur eine lose Baumwollhose, die von einer Schnur um die Hüften zusammengehalten wurde. Sein Oberkörper war nackt. Entsetzt griff sie nach ihrem Hemd, um ihre Blöße zu bedecken.
    »Deine Augen sind wie Taubenaugen«, flüsterte er, »deine Lippen wie Scharlach, deine Schläfen wie Scheiben von Granatapfel... Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.«
    Gracia war wie erstarrt. Alles hatte sie erwartet - dass er sie bedrängen würde, vielleicht sogar Gewalt anwenden, um Besitz von ihr zu ergreifen. Doch niemals hätte sie gedacht, dass er sie mit diesen Worten umschmeicheln würde. Unfähig, sich vom Fleck zu rühren, stand sie da, hielt das Hemd nur notdürftig vor den Leib. Und als währen ihre Lippen verschnürt, ließ sie geschehen, dass die Worte weiter in ihre Ohren hineinträufelten. »Komm, meine Braut, steig herab von der Höhe des Amana, von der Höhe des Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden.«
    Gracia kannte die Worte, jede einzelne Silbe, sie hatte sie selbst schon gesprochen, viele Male. Sie berührten ihr Herz und erfassten ihren Leib. Es waren die Worte König Salomos, die Worte des Hohelieds, die schönsten Worte der Heiligen Schrift. »Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born. Du bist gewachsen wie ein Lustgarten von edlen Früchten, von Zypernblumen und Narden, ein Gartenbrunnen bist du.« Sie wollte etwas sagen, ihm verbieten weiterzusprechen, doch seine Worte hüllten sie in eine seltsame, selig-süße Ohnmacht.
    Im Spiegel trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren in die ihren versunken wie in der Betrachtung eines Kunstwerks. Oder wie in einem Gebet.
    »Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, du hast mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen ... Honig und Milch sind unter deiner Zunge, und der Duft deiner Kleider ist wie der Duft des Libanon ...« Gracia spürte seinen Atem in ihrem Nacken und schauderte. Wie konnte er es wagen, diese Worte auszusprechen? Die Worte der Heiligen Schrift? Er war doch ein Heuchler, ein Verräter, ein Abtrünniger ihres Glaubens - der unversehrte Kelch war der Beweis! Sie hoffte, dass er endlich verstummte, flehte zu Gott, dass sein Atem versiegte, dass ihm die Zunge im Munde verdorrte. Aber Francisco sprach weiter, immer weiter, mit leiser, flüsternder Stimme.
    »Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen ... Komm, meine Schöne, komm her! Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, und die Reben duften mit ihren Blüten ...«
    Obwohl Gracia sich dagegen wehrte, zogen seine Worte sie wie in einem Strudel hinab, immer tiefer in jene selig-süße Ohnmacht, in der ihr Denken sich aufzulösen schien. Ein letztes Mal bäumte ihr Wille sich auf. Warum erlaubte sie ihm diese Rede? Warum hörte sie seinen Einflüsterungen zu? Sie war eine Nidda; sie musste ihm die Wahrheit sagen, ihm ihre Unreinheit gestehen, ihn zurückweisen, als Strafe für seinen Raub - jetzt gleich! Doch ihre Lippen blieben stumm.
    »Komm, meine Freundin, komm, meine Schöne, komm her! Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck

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