Die Gottessucherin
Lippen.
Was hatte das zu bedeuten?
Vor ihm stand ein todgeweihter Mann, ein überführter Ketzer und Gottesverleugner, der noch in dieser Stunde, sobald das Urteil verlesen war, den Flammen übergeben würde. Doch das Gesicht dieses Mannes erfüllte ein Leuchten, und seine Augen strahlten, als sei ihm die Heilige Jungfrau und Muttergottes erschienen.
37
Es war ein Blick wie ein Kuss. Doch er währte nur einen Wimpernschlag.
Kaum hatte Reyna ihren Verlobten entdeckt, schob sich das wogende Menschenmeer wieder zwischen José und sie, und sie verloren sich aus den Augen. »Im Namen des dreifaltigen Gottes!«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und stützte sich auf die Schulter von Amatus Lusitanus, um etwas zu sehen. Doch sie konnte auf dem Podium nur vage die Gestalt eines Dominikaners entdecken, die ab und zu zwischen den zahllosen Köpfen erschien, um sofort wieder vor ihrem Blick zu verschwinden.
»... hat das Gericht den Fall geprüft und ist zu folgendem Urteil gelangt ...«
In abgerissenen Fetzen wehten die Sätze über den Platz, die Joses Ende und Tod besiegelten. Plötzlich erkannte Reyna den Mönch. Er war derselbe verfluchte Dominikaner, der ihre Familie seit einem halben Menschenleben verfolgte wie der Teufel die Seele: Cornelius Scheppering. Während er mit brüchiger Stimme das Urteil verkündete, versuchte sie sich mit Gewalt einen Weg durch die Menge zu bahnen, in Richtung der Empore, zu deren Füßen sie ihren Verlobten entdeckt hatte.
»... ist folglich erwiesen, dass der Angeklagte sich der Ketzerei schuldig gemacht hat, indem er als getaufter Christ jüdischen Glaubensübungen frönte ...«
Wie lange würde José noch leben? Wie viele Minuten, wie viele Atemzüge, wie viele Herzschläge? Verzweifelt stieß Reyna jeden beiseite, der ihr im Weg stand, ohne auf Amatus Lusitanus zu achten, der vergeblich versuchte, ihr in dem Gewühl zu folgen. Als sie in der Nacht am Strand gesehen hatte, wie José unter dem Säbel eines Soldaten niedergesunken war, hatte sie sich geweigert, das rettende Schiff zu besteigen. Durch den Stollen der Jesuiten war sie mit Amatus Lusitanus wieder in die Stadt zurückgekehrt. Verkleidet als Christen, die eine Wallfahrt machten, hatten sie alles versucht, um José zu retten. Vergeblich. Nach dem Aufstand hatten die Dominikaner das Verlies in eine Festung verwandelt, und die Kaufleute, die den Aufstand angezettelt hatten, waren aus Ancona geflohen, um nicht selbst hingerichtet zu werden. Das Einzige, was Reyna noch für ihren Geliebten tun konnte, war, jetzt hier zu sein, hier auf diesem Platz. Auch wenn es ihr das Herz zerreißen würde, seinen Tod mit anzusehen - sie wollte bei ihm sein in dieser Stunde, die seine letzte sein würde, ihm zur Seite, solange sein Herz noch schlug und sein Atem nicht erloschen war.
»... darum übergeben wir dich nun den Flammen ... Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ...«
Das Blut gefror Reyna in den Adern. Wo war José? Wenigstens einmal sein Gesicht noch sehen - nur ein einziges Mal! Ohne nach links oder rechts zu schauen, drängte sie voran. Sie musste weiter! Zu José! Zu ihrem Geliebten! Aber je näher sie dem Scheiterhaufen kam, desto schwieriger wurde das Durchkommen. Rings um das Podium waren Jahrmarktsbuden aufgeschlagen, mit Naschwerk und Rosenkränzen und Heiligenbildern, wo nach der Hinrichtung Schausteller ihre Kunststücke aufführen würden, bevor das Volk auseinanderlief. Hier standen die Gaffer so dicht zusammen, dass man kein Blatt zwischen sie schieben konnte.
»... Bindet ihn auf die Leiter! ...«
Plötzlich tat sich vor Reyna eine Lücke auf. Zwischen zwei Jahrmarktbuden holte ein Bärenführer sein Tier aus dem Käfig, um als Erster am Platz zu sein, wenn das Hauptspektakel vorüber wäre. Ängstlich traten die Menschen beiseite. Da sah sie ihn! José lag auf einer Leiter im Staub, nur einen Steinwurf entfernt, zu Füßen des Podiums, zwei Kapuzenmänner beugten sich über ihn und banden ihn mit Stricken an den Sprossen fest. Reyna war ihm so nah, dass sie sein Gesicht ganz genau erkennen konnte: die blassen, blutleeren Wangen, die kaum vernarbten Verletzungen, die großen Ohren, die sie früher so schrecklich gefunden hatte - sogar seinen verkrüppelten Finger sah sie. »José! Hier! Hier bin ich!«
Ein Leuchten ging über sein Gesicht. Ja, er hatte sie gehört! Er suchte sie mit den Augen, versuchte, den Kopf in ihre Richtung zu wenden. Doch er schaffte es nicht, konnte
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