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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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sich nicht mehr rühren. Seine Blicke irrten umher, als wäre er in der Wüste verloren oder würde in der weiten Leere des Ozeans ertrinken. »... Richtet die Leiter auf! ...«
    Ein erwartungsvolles Stöhnen ging durch die Menge. Die Kapuzenmänner packten die Leiter und stemmten sie samt José in die Höhe. Wie der Gekreuzigte hing er an den Sprossen des schwankenden Gerüsts und blickte mit vor Angst geweiteten Augen auf das Feuer zu seinen Füßen. Unter dem johlenden Beifall des Volkes bewegten die Henker die Leiter in weiten Schwüngen hin und her, bei jedem Überholen ein wenig näher an den Scheiterhaufen heran. »Nein!«
    Reyna schrie, so laut sie konnte. Aber niemand hörte sie. Die Zuschauer stampften vor Begeisterung mit den Füßen. Ohne sich vor dem Bären zu fürchten, der mit breiten Beinen auf der Stelle tanzte, als würde auch er sich an dem Spektakel freuen, stürzte Reyna in die Richtung des Scheiterhaufens. Jemand hielt sie am Arm fest. Als sie sich umdrehte, sah sie Amatus Lusitanus, der sie in der Menge wiedergefunden hatte. »Bleibt hier! Ihr dürft Euch nicht zeigen! Man wird Euch mit ihm verbrennen!«
    Ohne Antwort zu geben, riss Reyna sich von ihm los. Und wenn sie mit ihm sterben würde - sie musste José sehen! Wieder griff Amatus nach ihr, doch sie stieß ihn von sich, so heftig, dass er zurücktaumelte.
    »José! Hier! Sieh her! Hier bin ich!«
    An dem Bären vorbei stolperte sie weiter. Sie hatte nur noch einen Gedanken. Sie musste zu ihm, zu ihrem Liebsten! Für einen letzten, allerletzten Blick! »Hier! José! Hier bin ich! Hier!«
    Endlich, endlich hörte er sie, und ihre Blicke trafen sich. Auf einmal schien die Zeit stillzustehen. Alles Gejohle verstummte, die Gaffer um sie herum traten zurück und verschwanden, als hätte es sie nie gegeben, so wenig wie die Schausteller und die Jahrmarktbuden, das Podium und den Dominikaner. Es gab nur noch sie beide, José und sie. »Mein Geliebter ...« »Mein Täubchen ... Mein Engel ...«
    Obwohl sie nicht hören konnte, was er sagte, verstand sie jedes Wort. Es war eine Sprache, die nur Gott und sie beide kannten. Während sich seine Lippen stumm bewegten, sprachen seine Augen direkt zu ihrem Herzen, und ihre Blicke verschmolzen zu einem Augenblick der Ewigkeit.
    Plötzlich war Reyna ganz ruhig, alle Angst fiel von ihr ab. Noch nie war sie Jose so nahe gewesen. Nie würde eine Frau ihrem Mann näher sein.
    »Ich bin bei dir ...«, flüsterte sie, »für immer bei dir ...«
     

38
     
    »Das Donnerkraut«, verlangte Cornelius Scheppering. Bruder Sylvester schaute seinen Oberen verwundert an. »Wollt Ihr Gnade vor Recht ergehen lassen, Ehrwürdiger Vater?« Cornelius Scheppering nickte. »Die Seele des Sünders wird ewiglich im Höllenfeuer büßen. Da dürfen wir seinen Leib getrost schonen, ohne der Gerechtigkeit Abbruch zu tun.« Widerwillig reichte der Novize ihm den Schießpulverbeutel. Auch wenn ein Angeklagter zum Feuertod verurteilt war, musste er nicht durch die Flammen sterben - es reichte, wenn seine sterblichen Überreste auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Die Prozessordnung der heiligen Inquisition sah deshalb die Möglichkeit vor, den Delinquenten bereits vor dem Verbrennen zu töten, indem der Henker ihn erwürgte, bevor sein Körper Feuer fing. Oder aber indem man ihm ein Säckchen mit Donnerkraut, auch Schießpulver genannt, um den Hals hing, das unfehlbar explodierte, sobald die Flammen daran rührten. »Hat José Nasi solche Gnade verdient?«, fragte Sylvester. »Gott ist die Liebe«, erwiderte Cornelius Scheppering. »Wahre Barmherzigkeit fragt weder nach Recht noch Gesetz.« Mit welker Greisenhand umschloss er den Beutel, der mit einem einzigen Knall ein Menschenleben auslöschen konnte. Welch sinnreiche Erfindung im Dienste der Humanitas! Die Zufügung körperlicher Qualen, die viele seiner Glaubensbrüder als Voraussetzung für das Heil erachteten, war in Cornelius Schepperings Augen seit jeher eine gröbliche Missachtung und Beleidigung des Göttlichen im Menschen. Vielleicht aus diesem Grund hatte sein zartes Gemüt den Anblick fremder Schmerzen nie ertragen, ohne selbst peinlichste Qualen mitzuleiden. Auf jeden Fall war er der festen Überzeugung, dass jedwede Form von Folter stets eine größere Strafe für den Richter sei als für den Verurteilten selbst.
    »Kommen wir zum Ende!«
    Cornelius Scheppering trat an den Rand der Empore, um den Kapuzenmännern das Zeichen zu geben. Gleich darauf schwenkte die Leiter

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