Die Gottessucherin
Anstrengungen des Gebets. Immer weiter beugte sie die Knie vor, immer straffer richtete sie ihren Oberkörper auf, ohne Rücksicht auf die Schmerzen, die sie sich dadurch bereitete. Keine Vorschrift ließ sie aus, jeden Segensspruch wiederholte sie, wie das Gesetz es verlangte, doch während sie den Herrn um Hilfe anflehte, spürte sie, wie sinnlos ihre Anstrengungen waren. Es war, als hätte sie die Sprache verlernt, in der man zu Haschern spricht. Und sie wusste auch den Grund: Ihr Herz war nicht bei dem Gebet, nur leere Worte strömten über ihre Lippen - leere Worte, die den Herrn nicht erreichten.
Hatte sie durch ihren Glauben Gott verloren?
Sie hatte die Andacht noch nicht beendet, da ging die Tür auf, und Judith, ihre Magd, trat herein.
»Weißt du nicht, dass man niemanden im Gebet stören darf?«, herrschte Gracia sie an.
»Verzeiht, Senhora, aber ich wusste nicht, dass Ihr gerade ...« Judith wollte sich entfernen, doch Gracia hielt sie zurück. »Wenn du schon da bist - was willst du?«
Judith hob einen gefiederten Balg in die Höhe: »Das habe ich auf dem Dachboden gefunden.«
»Eine tote Taube?«, rief Gracia. »Und dafür störst du mich im Gebet und versündigst dich?«
»Es ... es war nicht nur die Taube«, stammelte Judith und reichte ihr einen kleinen Köcher, in dem ein zusammengerolltes Blatt Papier steckte. »Das war an der Taube befestigt. Ich ... ich dachte, es wäre meine Pflicht. Weil ... Eure Tochter ist immer auf den Dachboden gestiegen, um nach den Tauben zu schauen. Und vielleicht will die Senhora deshalb wissen ...« Mitten im Satz verstummte sie, hochrot im Gesicht und die Augen auf ihre Fußspitzen gerichtet.
Gracia verstand kein einziges Wort. Was redete Judith da für einen Unsinn? »Gib schon her!«
Sie rieb sich die Hände am Kleid ab und nahm den Köcher. Als sie das Papier auseinanderfaltete, erkannte sie sofort die Schrift. Ein Brief? Von José?
Mit angehaltenem Atem las Gracia die Zeilen. Sie waren an Reyna gerichtet.
Du brauchst nicht traurig zu sein, mein Engel, ich bin es auch nicht. Meinen Körper haben sie zwar in Ketten gelegt, aber in meinen Gedanken bin ich frei und kann mein Gefängnis verlassen, wann immer ich will. Wenn ich es nicht mehr aushalte, stelle ich mir einfach Dein Gesicht vor und zähle Deine Sommersprossen. Es sind genau siebenhundertvierundachtzig - zähl ruhig nach. Ich küsse jede einzelne, wieder und wieder. Dann fühle ich mich ganz leicht und bin glücklich. Ich liebe Dich, Reyna, und ich bin bei Dir, wo immer Du auch bist ...
»Was ist, Senhora?«, fragte Judith. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
Gracia antwortete nicht. Wie betäubt starrte sie auf den Brief in ihrer Hand, und während sie noch einmal Joses Zeilen las, füllten ihre Augen sich mit Tränen, und die Buchstaben auf dem Papier verschwammen.
»Wo hast du die Taube gefunden?«, flüsterte sie. »Auf dem Dachboden, Senhora«, erwiderte Judith. »Da lag noch eine Taube. Die war auch tot. Aber an der war nichts festgemacht, nur ein Stück Schnur. Jemand hat sie an einen Balken gebunden, damit sie nicht wegfliegen kann, durch die Luke im Dach ... Ich hab mir wirklich nichts Böses dabei gedacht, Senhora. Ich wollte nur nichts falsch machen. Ich weiß ja auch nicht, was das alles bedeutet ...«
»Aber ich, Judith, ich weiß es ...«
Gracia schloss die Augen. Während ihre Magd weitere Entschuldigungen stammelte, sah sie das Gesicht ihrer Mutter, hörte ihre Stimme, vor vielen, vielen Jahren, am Vorabend ihrer Volljährigkeit, wie sie ihr von dem Praca do Rossio erzählt hatte, von der Zwangstaufe der zwanzigtausend und der Weissagung des Propheten - jene heiligen, unheilvollen Worte, die sie seitdem nie mehr hatte vergessen können und die ihr Leitstern gewesen waren, ein Leben lang: »Sehet die Tauben am Himmel! Sie werden euch den Weg weisen, den Weg ins Gelobte Land ...«
36
Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sicher ... Auf dem Campo della Mostra, dem größten und bedeutendsten Platz von Ancona, war, im Schatten der Kathedrale San Ciriaco und in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem brennenden Scheiterhaufen, ein prachtvolles Podium aufgeschlagen, das bekrönt war von einem rotsamtenen Baldachin sowie einem goldenen Kreuz. Hunderte Schaulustiger strömten bei herrlichem Herbstwetter auf die Piazza und umringten das Blutgerüst, in hochgestimmter Erwartung einer Hinrichtung, die das Lebenswerk eines treuen Gottesknechtes und unermüdlichen Arbeiters im Weinberg
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