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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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gut«, entschied er und rief den anderen zu: »Habt ihr gehört, was meine Frau gesagt hat?«
    Alle drängten zur Kellertreppe, um Gracia zu folgen, die mit Reyna auf dem Arm voranging. In dem Gewölbe empfing sie kühles, dunkles Schweigen. Francisco fröstelte. War Gott wirklich in dieser finsteren Höhle, um sie zu beschützen? Ein paar Stühle waren umgekippt, aber über der Lade flackerte noch das Ewige Licht. Ein gutes Zeichen.
    »Kommt weiter nach vorne«, rief Gracia. »Zur Thora!« Alle scharten sich um sie, jeder wollte in ihrer Nähe sein. Doch kaum hatten sie sich vor dem geschnitzten Schrein versammelt, da setzte das zweite Beben ein, noch heftiger und furchtbarer als das erste. Die Frauen und Männer schrien in Todesangst. Das ganze Gewölbe bebte, Putz platzte von den Wänden, überall bildeten sich Risse in den Mauern. Als hätten sie keinen eigenen Willen, wurde einer gegen den anderen geworfen, kreischend hielten sie sich aneinander fest, taumelten und stürzten zu Boden. Francisco wurde an eine Wand geschleudert, und als er sich wieder aufrichtete, überkam ihn Panik. Warum waren sie nicht ins Freie geflohen? Das Gewölbe war ein Kerker! Jeden Moment konnte die Decke einstürzen!
    Nur Gracia schien keine Angst zu haben. Mit ihrer Tochter kniete sie vor dem Allerheiligsten, unberührt von dem Inferno, wie im Zentrum eines Wirbelsturms. Mit leiser Stimme begann sie das Schma Jisrael zu beten.
    »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig. Gepriesen sei Gottes ruhmreiche Herrschaft immer und ewig! Darum sollst du den Ewigen, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.«
    Das Ewige Licht tanzte, der Thoraschrank wankte, und irgendwo draußen in der Ferne läuteten Kirchenglocken Sturm, wie bei einer Feuersbrunst. Doch während das ohrenbetäubende Beben und Bersten unvermindert weiterging, verstummten allmählich die angstvollen Schreie, und einer nach dem anderen fiel in Gracias Gebet ein.
    »Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen!«
    Mit einem Knall sprang die Tür aus den Angeln, und die steinerne Kanzel stürzte in sich zusammen. Aber Gracia setzte das Schma fort, unbeirrt, und mit ihr Francisco, wie die ganze kleine Gemeinde, als könnten sie mit ihrem Gebet den Naturgewalten Einhalt gebieten.
    Und dann geschah das Wunder. Während sie ihre Stimmen gegen den Schrecken erhoben, nahm eine seltsame, unbegreifliche Glückseligkeit von Francisco Besitz, und alle Angst fiel von ihm ab. Noch nie hatte er mit solcher Macht die Liebe gespürt wie in diesem Augenblick, im Angesicht des Todes, die Liebe zu Gracia, seiner Frau. Ja, er war glücklich, selbst wenn sie heute sterben müssten.
    »Ich bin der Ewige, euer Gott: Ich habe euch aus Ägypten herausgeführt, um für euch Gott zu sein. Ich, der Ewige, bin euer Gott.« Noch einmal bebten die Wände überall, und zugleich erfüllte ein Poltern und Krachen das Gebäude mit solcher Wut, als würde das Rasen der Hölle das Erdreich durchdringen. Und plötzlich war alles ruhig und still. Nur feiner weißer Staub rieselte lautlos von der Decke. Irgendjemand hustete. Doch niemand wagte zu sprechen, niemand rührte sich, als könnte ein einziges Wort, eine einzige Bewegung die Höllenkräfte aufs Neue entfesseln.
    Gracia fand als Erste die Sprache wieder.
    »Ich glaube, es ist vorbei«, sagte sie in die Stille.
    »Ja«, sagte Francisco. »Es ist vorbei. Es ist tatsächlich vorbei.« Er griff nach ihrer Hand und schaute sie an. »Du ... du hast uns gerettet.«
    Plötzlich begann seine Hand zu zittern, so stark, dass er sie kaum unter Kontrolle halten konnte, und sein Herz raste und schlug in seiner Brust wie eine Herde galoppierender Pferde. »Nein, nicht ich«, sagte sie und drückte seine Hand. »Gott hat uns gerettet. Er hat uns beschützt in seinem Haus. Wie der Prophet gesagt hat: >Der Berg Edom wird in einem gewaltigen Beben der Erde zerbersten. Das Volk Israel aber wird sich erheben.. .<« Francisco spürte, wie ihre Ruhe auch ihn ergriff, und sein Herz hörte auf zu rasen, während die Erinnerung zurückkam, wie aus einem anderen Leben. Ein kleiner, dunkelhäutiger Orientale, der unter Tausenden hungernder und durstender Juden auf der Praca do Rossio aufgestanden war, wie ein Erlöser, um ihnen die Tauben am Himmel zu zeigen, den Weg ins Gelobte Land. »Glaubst du, die Prophezeiung damals - galt wirklich
uns?«
Bevor Gracia etwas sagen konnte, begann

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