Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Gesichter voll banger Hoffnung auf ein Ende der Heimsuchung, schlugen das Kreuzzeichen und murmelten Gebete, während das eben noch ohrenbetäubende Getöse als harmloses Grummein in dem wolkenlosen, emailblauen Himmel verebbte, wie nach einem gewöhnlichen Gewitter.
     

21
     
    »Ist es vorbei?«, fragte Gracia.
    Mit allen Sinnen horchte Francisco in die gespenstische Stille hinein. Die Mauern des Hauses hatten gebebt und gewankt, aber wie durch ein Wunder hatten sie standgehalten. Nur ein leises Klirren aus der Küche war noch zu hören, sonst kein einziger Laut. Sogar Reyna, die während des Bebens wie am Spieß ge schrien hatte, war verstummt. Mit aufgerissenen Augen hockte sie auf Gracias Schoß, die Arme um den Hals ihrer Mutter geschlungen, und starrte in die Gesichter der Dienstboten, die sich in der Eingangshalle wie eine Herde verängstigter Schafe drängten.
    Sie hatten sich gerade an den Mittagstisch gesetzt, zusammen mit Brianda, die am Morgen zu Besuch gekommen war, als das Beben hereingebrochen war. Sofort waren alle die Treppe zum Tor hinuntergeeilt, aber es ließ sich nicht öffnen. Die Balken mussten sich verzogen haben, und da der Hinterausgang durch Warenballen versperrt war, saßen sie jetzt wie in einer Mausefalle fest. Der Steinboden der Halle war übersät mit umgestürzten Möbeln, zertrümmertem Geschirr und Hunderten von Büchern, die samt den Regalen zu Boden gefallen waren. Über der Treppe hatte sich ein gezackter Riss wie ein erstarrter Blitz in die Wand gebrannt, und der Treppenabsatz im ersten Stock hatte sich bedenklich geneigt.
    »Ich weiß nicht, ob es vorbei ist«, sagte Francisco. »Auf jeden Fall müssen wir raus. Wenn noch ein Stoß kommt ...« Erst jetzt sah er die blutige Schramme auf Gracias Stirn. »Herrje, bist du verletzt?«
    »Nein, es ist nichts. Aber wie kommen wir hier heraus?« Francisco nahm einen Stuhl und zerschlug mit den Beinen eine Fensterscheibe.
    »Los, Paco, hilf mir!«, rief er dem Hausburschen zu. »Wir müssen uns beeilen!«
    »Ich schau in den Zimmern nach«, sagte Brianda, »ob noch irgendwo jemand steckt.«
    »Ja, tut das! Keiner darf im Haus bleiben. Aber macht schnell!« Während Brianda die Treppe hinauflief, riss Francisco mit bloßen Händen die Bleikreuze aus dem Fensterrahmen, damit der Durchschlupf groß genug wäre. Eine Scherbe schnitt ihm bis auf den Knochen ins Fleisch, doch er spürte nicht den geringsten Schmerz.
    Mit keuchendem Atem kehrte Brianda zurück. »In den Zimmern ist keiner mehr!«
    »Gut! Dann alle raus! Meine Frau und meine Tochter zuerst!« Im selben Moment fing Reyna an zu schreien: »Nein, Vater! Nein! Bitte nicht!«
    »Psst, mein Schatz«, machte Gracia. »Ist ja gut, gleich ist alles vorbei.«
    »Nein! Nicht raus! Ich will nicht! Draußen müssen alle sterben!«
    »Gib sie mir«, sagte Francisco und nahm ihr das Kind ab. »Meinst du, du schaffst es?«
    Gracia kletterte auf einen Schemel, das Fenster war zu hoch für sie.
    »Nein, Mutter!«, schrie Reyna. »Geh nicht raus! Bleib hier!« Gracia war schon halb im Fenster verschwunden, da drehte sie sich plötzlich um. Als hätte sie eine Erscheinung, schaute sie auf ihre schreiende Tochter.
    »Was ist?«, fragte Francisco. »Worauf wartest du?«
    »Mutter! Mutter!«, rief Reyna und streckte die Arme nach ihr aus. »Ich will zu dir!«
    »Vorwärts!«, rief Francisco. »Es kann jeden Moment wieder losgehen!«
    Doch Gracia hörte nicht auf ihn. Während alle darauf warteten, endlich ins Freie zu gelangen, stieg sie von dem Schemel und griff nach ihrer Tochter.
    »Wir bleiben hier«, erklärte sie. »Wir gehen in unsere Synagoge.«
    »In den Keller?«, fragte Brianda. »Bist du verrückt?«
    »Deine Schwester hat recht«, sagte Francisco. »Jedes Kind weiß, dass man bei einem Erdbeben ...«
    »Trotzdem«, sagte Gracia. »Ich weiß nicht, warum, aber ich bin ganz sicher, dass wir nirgendwo besser aufgehoben sind. Die Synagoge ist das Haus Gottes. Er wird uns beschützen.« Francisco wollte widersprechen, aber als er ihr Gesicht sah, blieb er stumm. Es war noch nicht lange her, da hatte er Gracia für ein jähzorniges, verwöhntes Kind gehalten. Doch jetzt, in der höchsten Gefahr, strahlte sie eine solche Ruhe und Bestimmtheit aus, dass er sich ihr nicht widersetzen konnte. Sie schien so stark wie Königin Esther, die Frau, deren Abbild sie an ihrem Hals trug. »Bist du dir wirklich sicher?«
    Gracia nickte. »Ja, Francisco, ganz sicher«, sagte sie. »Vertrau mir.«
    »Also

Weitere Kostenlose Bücher