Die Gottessucherin
Mann geirrt hatte! Das war unmöglich - ganz und gar ausgeschlossen!
»Ich hasse Lügen«, sagte sie, doch war sie selbst überrascht, wie zaghaft ihre Stimme klang. »Er hat mich so oft angelogen. Weshalb soll ich Euch jetzt glauben?«
»Aus einem einzigen Grund«, erwiderte der Rabbi. »Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ein so reicher Mann wie Francisco Mendes für Geld sein Leben aufs Spiel setzt?«
»Warum sein Leben?«, fragte Gracia zurück. »Was riskiert er schon bei dem Geschäft?«
»Jeder Jude, der versucht, ohne Erlaubnis des Königs das Land zu verlassen, wird mit dem Tod bestraft.«
»Das weiß ich, die Dominikaner predigen es ja von den Kanzeln. Aber was hat das mit Francisco Mendes zu tun? Er bleibt ja im Land.«
»Die Todesstrafe droht nicht nur den Flüchtlingen, sie trifft genauso jeden, der einem Juden zur Flucht verhilft. Zum Beispiel Schiffskapitäne oder ...« - der Rabbiner machte eine Pause, bevor er weiter sprach - »... Schiffseigner. Habt Ihr das auch gewusst?« Gracia biss sich auf die Lippen. Nein, das hatte sie nicht gewusst. Sie suchte Franciscos Augen. Sie hoffte, ein Lächeln würde ihn verraten, ein winziges falsches Lächeln, um ihr zu bestätigen, dass er der Lügner war, als den sie ihn so oft durchschaut hatte. Aber Francisco wich ihrem Blick aus, als wäre ihre Verwirrung ihm peinlich.
>Ich habe den Herrn beständig vor Augen ... Mach dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten ... Such ihn zu erkennen auf all deinen Wegen ...<
Rabbi Soncino schien ihre Gedanken zu erraten. Er fragte: »Sieht so ein Lügner aus?«
Gracia spürte, wie die Scham ihr das Blut ins Gesicht trieb. Nein, sie hatte sich geirrt, sie konnte sich der Einsicht nicht länger verschließen. Was ihr unmöglich erschienen war, ganz und gar ausgeschlossen, erwies sich als Wahrheit, und ihre falsche Gewissheit fiel in sich zusammen, um einer bestürzenden Erkenntnis Platz zu machen. Der Mann, den sie als Verräter ihres Glaubens verachtet hatte, riskierte für diesen Glauben alles, was er besaß: sein Vermögen und sein Leben! »Warum hast du mir das nie gesagt?«, fragte sie leise. Ohne eine Antwort blickte Francisco zu Boden. Lautlos erhob sich Rabbi Soncino und verließ den Raum. Nun war Gracia mit ihrem Mann allein.
»Warum hast du mir das nie gesagt?«, fragte sie noch einmal.
Francisco hob den Kopf und sah sie an. »Ich hatte Angst, du könntest uns verraten«, sagte er schließlich. »Es stand zu viel auf dem Spiel. Darum habe ich geschwiegen.«
Plötzlich schämte sich Gracia, wie sie sich noch nie geschämt hatte. Was zählte im Vergleich zu seinem Mut ihr Hochmut, was im Vergleich zu seiner Tat ihre kindlich eitle Schwärmerei? Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken, aber sie schaffte es nicht.
Sie schaffte es kaum, seinem Blick standzuhalten.
»Blind und taub war ich«, sagte sie. »Du hast alles Recht, mich zu verstoßen.«
»Willst du immer noch den Scheidebrief?«, fragte er und lächelte sie an. Aber nichts Falsches lag in diesem Lächeln, nur ein wenig Spott. Vor allem aber grenzenlose Zärtlichkeit. »Kannst du ... kannst du mir - verzeihen?« »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts zu verzeihen.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen. »Du bist meine Frau, ich hätte dir die Wahrheit sagen müssen. Aber ich habe dir nicht vertraut. Durch meine Schuld hast du mich verachtet. Du ... du konntest nicht anders von mir denken.«
Warm und fest und stark umschloss seine Hand die ihre. Warum hatte sie früher nie diese Kraft gespürt? Wieder lächelte er, und wieder war nichts Falsches an seinem Lächeln. »Seit wann machst du das alles schon?«, fragte sie. »Seit ich ein Mann bin. Ich war als Kind auf der Praca do Rossio, genauso wie deine Mutter. Damals habe ich mir geschworen, dass ich alles tun werde, damit so etwas nie wieder mit Juden geschieht.«
»Aber hast du keine Angst, dass sie dich ...« »Pssst«, machte er. »Ich bin kein Held. Alles, was ich tue, tue ich für mein eigenes Wohl, zur Rettung meiner Seele. Du weißt doch, Juden dürfen nur in der Glaubensfremde leben, wenn sie dort anderen Juden helfen.«
Es war, als löse sich ein Panzer von Gracias Seele. Eine Woge der Erleichterung erfasste sie, alles in ihr drängte sich Francisco entgegen. Nein, ihr Leib hatte sie nicht belogen. Was sie des Nachts in seinen Armen dunkel gespürt hatte, wurde jetzt, im hellen Licht des Tages und ihres Verstandes, zur Gewissheit. Ganz
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