Die Gottessucherin
noch ein Buch, in dem jemand gelesen hatte.
Über die unversehrte Treppe des Dienstbotenaufgangs konnte Gracia in die oberen Stockwerke gelangen. Auch hier war keine Menschenseele. Sie schloss kurz die Augen. Hatte ihr Vater vielleicht denselben Gedanken gehabt wie sie? Sie durchquerte die Halle, um nachzuschauen. Doch die Tür zum Keller ließ sich nicht öffnen, sie hatte sich verkantet. Mit beiden Händen rüttelte Gracia an dem Riegel, warf sich gegen die Füllung. Aber dann, als sie endlich Erfolg hatte, wünschte sie sich, sie hätte es nie versucht. Die steinerne Treppe war eingestürzt, vor ihren Füßen klaffte ein schwarzes Loch, auf dessen Grund sich ein Steinhaufen türmte - hoch genug, um Menschen darunter zu begraben.
Gracia hielt sich am Türpfosten fest. Jetzt hatte sie nur noch eine Hoffnung.
So schnell sie konnte, kehrte sie auf die Straße zurück. Sie musste zur Synagoge! Entweder würde sie dort Brianda und ihren Vater finden, oder ...
Ohne nach links und rechts zu blicken, eilte sie durch die zerstörten Gassen, und bald war sie im alten Judenviertel. Auch hier hatte das Beben gewütet. Viele Häuser lagen in Schutt und Asche, und von denen, die stehen geblieben waren, sahen manche aus, als würden sie im Nachhinein noch einstürzen. Zwischen den Ruinen irrten überall Menschen umher, manche in ihren Unterkleidern, in Nachtgewändern, so wie das Beben sie ins Freie getrieben hatte. Halb wahnsinnig riefen sie die Namen ihrer Angehörigen.
Auf einmal glaubte Gracia etwas zu hören, ganz leise, wie aus weiter Ferne, einen vertrauten, unzählige Male gehörten Sprechgesang. Konnte das wirklich sein? Sie blieb stehen, um zu lauschen. Nein, sie hatte sich nicht geirrt.
Im selben Augenblick rannte sie los, und kaum hatte sie die nächste Straßenecke erreicht, da sah sie, woher die Stimmen kamen. Groß und mächtig und unzerstört erhob sich vor ihr die Synagoge aus einer Wüste von Schutt und Geröll.
»Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du mir an diesem Ort ein Wunder erwiesen.«
Das Gotteshaus quoll über von Menschen. Dicht an dicht standen sie, die Hände zum Gebet erhoben, Männer und Frauen nebeneinander, statt wie sonst durch eine Wand getrennt, um gemeinsam dem König und Herrn für ihre Rettung zu danken. Gracia drängte sich durch die Reihen, und sie hatte noch nicht die Kanzel erreicht, da sah sie hinter einer Säule ihre Schwester, zusammen mit ihrem Vater und ihrem Neffen José. »Gott sei Lob und Dank! Ihr lebt!«
Es war wie eine Erlösung. Wieder und wieder nahm sie ihre Schwester in den Arm, ihren Vater, ihren Neffen, drückte sie an sich und konnte nicht aufhören, sie zu küssen, während ihr die Tränen in Strömen über die Wangen liefen.
»Wie habt ihr es geschafft? Wo habt ihr überlebt? Hier? In der Synagoge?«
»Wo denkst du hin?«, erwiderte ihr Vater. »Gleich als es anfing, bin ich ins Freie gelaufen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich war, als plötzlich Brianda vor mir stand.« »Aber dann sind sie gleich hergekommen, um Gott zu danken, wie die anderen auch«, sagte Rabbi Soncino, der mit der Gemeinde das Gebet beendet hatte.
»Wie bin ich froh, euch zu sehen«, sagte Gracia. »Ich hatte so entsetzliche Angst, als Brianda plötzlich verschwunden war.« Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. »Komm her, ich muss dich noch mal in den Arm nehmen.« Erst jetzt bemerkte sie Tristan da Costa an Briandas Seite. »Ah - Ihr seid auch hier? Wie schön!« Sie nickte ihm zu, um ihn zu begrüßen. Da sah sie, dass der Mann seinen Arm um ihre Schwester geschlungen hatte. »Na, willst du uns nicht gratulieren?«, fragte Brianda mit einem Lächeln.
»Gratulieren? Wozu?«
»Seit wann bist du so schwer von Begriff? Senhor da Costa und ich - wir haben uns während des Bebens verlobt.«
23
»Siebzig Wochen Strafe sind über das Volk Israel verhängt, zur Verbüßung seiner Schuld. Dann wird dem Frevel ein Ende gemacht, und die Sünde ist abgetan, und der Messias wird kommen, um die Edomiter zu vernichten. Eine Wasserflut wird sich über ihr Reich ergießen, und der Berg Edom wird in einem gewaltigen Beben der Erde zerbersten. Das Volk Israel aber wird sich erheben, und die weiße Taube wird sich wieder zum Himmel aufschwingen, und die grüne Taube wird die weiße Farbe annehmen.«
Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde hatten wie Francisco Mendes vor mehr als dreißig Jahren noch mit eigenen Ohren die Worte des Propheten
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