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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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von allein, ohne Zutun ihres Willens, kamen die Worte über ihre Lippen, die Worte der Heiligen Schrift. »Siehe, mein Freund, du bist schön. Siehe, schön bist du ...« »Meine Taube ...«, erwiderte er, flüsternd wie sie. »Meine Freundin, meine Reine ...«
    In einer Gefühlsaufwallung, die jeden Zweifel erstickte, schmiegte Gracia sich an ihren Mann. Sie hatte nur noch einen einzigen Wunsch: ihm nahe zu sein - so nahe, wie es irgend ging. »Komm, mein Schöner, komm her! Siehe, der Winter ist vergangen ...«
    »... der Regen ist vorbei und dahin ...«
    »... die Blumen sind aufgegangen im Lande ...«
    »... und die Reben duften mit ihren Blüten ...«
    Während die Worte über ihre Lippen strömten, nahm Gracia das Gesicht ihres Mannes zwischen die Hände und suchte mit ihrem Mund den seinen.
     

20
     
    Die Glocken von zweihundert Kirchen und Klöstern läuteten in der Morgenfrühe, um die Christen der Stadt Lissabon zur heiligen Messe zu rufen, zum Fest von Allerheiligen. Seit Menschengedenken hatte an dem Totentag keine solche Hitze mehr geherrscht wie in diesem Dürrejahr. Wie mit Graphit gezeichnet, scharf und überdeutlich, erhoben sich im durchscheinenden Licht der Herbstsonne die Glockentürme über den Dächern der Häuser und Paläste, und obwohl nur die Reichen sich eine Erfrischung leisten konnten, fanden die Wasserträger und Limonadenverkäufer auf der Praca do Rossio kaum Zeit, auf den Stufen des ausgetrockneten Neptunbrunnens zu verschnaufen. Die Nacht war noch nicht ganz vergangen, da hatten die Küster in den Gotteshäusern damit begonnen, die Öllampen und Weihrauchbecken anzuzünden, und während immer mehr Menschen auf die Straßen strömten, zogen die Bettelmönche in ihren verdreckten, stinkenden Kutten von einer Kirche zur anderen und boten reuigen Sündern Bilder und Statuetten verstorbener Heiliger zum Kusse dar, um sie in ihrer heutigen Fürbitte zu bestärken. Alle gläubigen Christen der Stadt waren darin vereint, Gott den Herrn anzuflehen, ihnen endlich Regen zu schicken. Seit Monaten war kein Tropfen Wasser mehr vom Himmel gefallen, die meisten Kornspeicher waren so leer wie die Brotregale der Bäcker, und in den Wohnvierteln der Armen breitete sich der Hunger aus.
    Das Hochamt hatte gerade begonnen, die Hauptmesse des Tages mit Chorgesang und Orgelspiel, in den Gotteshäusern fächelten sich die Frauen Luft zu, und die Männer knöpften sich die Hemdkragen auf, um sich in Erwartung einer allzu langen Predigt die drückende Hitze erträglicher zu machen - da erhob sich draußen auf den Plätzen ein anschwellender Wind. Tauben flatterten von den Zinnen auf, und ein Stöhnen und Ächzen erfüllte die Luft, als würde ein Riese sich von seinem Lager in die Höhe stemmen. Im selben Moment begann die Erde zu beben, Häuser wurden in ihren Grundfesten erschüttert, Türme taumelten wie trunken hin und her, Fensterscheiben platzten, Tore sprangen aus den Angeln. Es war, als wäre der Jüngste Tag gekommen. Gerüste und Buden fielen in sich zusammen, Mauern, Dächer - ganze Häuser und Paläste stürzten ein wie Kartenhäuser. Kreischend flohen die Menschen ins Freie, um sich vor den herabregnenden Steinen und Balken zu retten, doch es gab kein Entkommen. Mit solcher Macht erbebte die Erde, dass die gepflasterten Straßen barsten und der Boden sich in gezackten Gräben spaltete. Angeschirrte Pferde rissen sich von den Deichseln und galoppierten wiehernd durch die Gassen, während das Stöhnen und Ächzen anschwoll, immer lauter und lauter, als wollte die Erde ihr Innerstes erbrechen. Flammen züngelten zwischen den Trümmern auf, genährt von dem Wind, der sich aufs Neue erhob, wuchsen sie im Nu zu lodernden Feuersbrünsten heran. Wie geschmolzenes Blei brodelten die Fluten des Tejo, türmten sich zu haushohen Wellen auf und schleuderten die Boote und Schiffe gegen die Mauern am Kai, wo sie wie Spielzeug zerbrachen. Gleich einem riesigen Muskel zogen sich die Fluten zusammen, das Wasser trat vom Ufer zurück, um das Flussbett freizulegen - ein grauer, glänzender Schlamm, voll blubbernder, gurgelnder Strudel. Und während bläuliche Flammen daraus in die Höhe schössen, Fontänen unterirdischer Feuerquellen, erreichten die Feuersbrünste am Hang des Burgbergs die Pulverkammer der Garde, die mit einem Donnerknallen explodierte, als würde eine ganze Armee gleichzeitig ihre Geschütze abfeuern. Dann, für einen gespenstischen Augenblick, war alles still. Die Menschen schauten sich an, die

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