Die Gottessucherin
Reyna auf ihrem Arm zu zappeln. Ganz aufgeregt schaute sie sich mit ihren großen blauen Augen in dem Gewölbe um. »Wo ist Tante Brianda?«
22
Nur wenige Minuten hatte das Beben gedauert, aber es brauchte wohl eine Stunde, bis die schwarzen Wolken aus Staub, Asche und Rauch sich verzogen. Dann sandte die Sonne ihre Strahlen wieder zur Erde herab, der Tejo kehrte in sein Bett zurück, und die Tauben, die hoch am Himmel in den Lüften kreisten, ließen sich gurrend am Ufer des Flusses nieder, um nach ihren Brut- und Futterplätzen zu suchen. Doch die Stadt Lissabon, am Morgen dieses Tages noch herrliches Sinnbild menschlicher Größe und Schöpferkraft, bot nun ein Schreckensbild der Verwüstung, wie die Welt seit der Zerstörung Sodoms kaum eines mehr gesehen hatte. Ganze Wohnviertel waren zu Steinwüsten zerfallen, Mauern und Dächer, dazu geschaffen, Schutz und Zuflucht zu gewähren, hatten ihre Besitzer unter sich begraben. Überall zwischen den Ruinen irrten Frauen und Männer umher, blutend und in zerfetzten Kleidern, die Hände klagend zum Himmel erhoben. Die ersten Priester, durch wahre Gottesfurcht ermutigt, wagten sich aus ihren Sakristeien, um die Opfer in den Geröllmassen mit dem Trost des Gottessohnes zu versorgen. Und während sie all jene, in deren Leibern sich noch letztes Leben regte, von ihren Sünden freisprachen und zum Abschied aus dem Diesseits mit Weihwasser besprengten, schlug hier und da über den Trümmern ein Glöckchen an, mit zerbrechlich zitterndem Klang, das einsame Seelen auf ihrer Reise ins Jenseits begleitete. Der Himmel war noch mit einem grauen Schleier verhangen, als Gracia auf die Straße trat, um nach ihrer Schwester zu suchen. Brianda hatte nicht auf Gott, sondern auf ihre Vernunft vertraut und war aus dem Haus geflohen. Wo konnte sie jetzt sein ? Es gab nur eine Möglichkeit. Gracia wandte sich nach links, in die Richtung von Santa Justa, der Gemeinde, zu der das Haus ihres Vaters gehörte.
Die meisten Gebäude in der Rua Nova dos Mercadores waren unversehrt geblieben, nur wenige Fassaden hatten hier Schaden genommen. Aber schon an der ersten Straßenkreuzung herrschte eine ungeheure Verwüstung, so dass Gracia für einen Augenblick die Orientierung verlor. Ein baumlanger schwarzhäutiger Mensch stand auf einer Geröllhalde, die einmal eines der stolzesten Bürgerhäuser des Viertels gewesen war, und reckte mit irrem Lachen einen blutenden Armstumpf in die Höhe, während ein Hund mit seiner abgerissenen Hand das Weite suchte. Gracia wurde fast übel bei dem Anblick, und von Angstbildern gepeinigt, in denen sie ihre Schwester und ihren Vater unter Schüttmässen begraben sah, stolperte sie weiter, vorbei an einem leichenblassen Greis, der vor den Trümmern seines Hauses mit einem Mantel seine tote Frau bedeckte.
»Gott, König und Herr«, flüsterte sie wie ein Kind, »bitte mach, dass sie noch leben.«
Auf der Praca do Rossio fasste sie wieder Mut. Hier hatte das Beben kaum Spuren hinterlassen, sogar der steinerne Neptun auf dem Brunnen hatte überlebt und hielt seinen Dreizack weiter in die Luft. Als sie aber ihr Elternhaus sah, stockte ihr das Blut in den Adern. Die Fenster waren geborsten, der Balkon im ersten Stock hing wie eine eiserne Fahne von der Fassade herab, und das Dach war eingestürzt. Die Haustür klappte in den Angeln auf und zu, als könnte ein unsichtbarer Gast sich nicht entschließen, ob er eintreten sollte oder nicht. Gracia überlegte keine Sekunde. »Ist hier jemand?«, rief sie in der Halle.
Niemand antwortete. Nur eine Katze strich mit krummem Rücken an ihr vorbei. Gracia erkannte die Umgebung kaum wieder. Kein Möbelstück stand mehr an seinem Platz. Die Wände waren schräg und schief, wie in einem Alptraum, und die Treppe schraubte sich in einer bizarren Windung in die Höhe, ins Nirgendwo. Lautlos huschte die Katze die Stufen hinauf, doch als sie auf der obersten angekommen war, ächzte das Gebälk, und während das Tier sich mit einem mächtigen Satz auf die Galerie im ersten Stock rettete, brach die Treppe in sich zusammen. Gracia schrie auf.
Mit klopfendem Herzen durchsuchte sie das Erdgeschoss, die Küche, die Speisekammer, das Empfangszimmer, und fand keine Spur von ihrem Vater oder ihrer Schwester. Nur im Wohnzimmer war fast alles noch so, wie sie es kannte. So oft hatte sie hier mit Brianda und ihrem Vater gesessen, und meistens hatten sie gestritten. Wie lange war das her? Eine Woche - oder eine Ewigkeit? Auf dem Tisch lag
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