Die Gottessucherin
Schwester: »Warum lässt du Reyna nicht zu mir?«
Brianda wollte etwas sagen, da hörte Gracia die Stimme ihres Vaters im Rücken.
»Gut, dass du endlich da bist.«
Sie drehte sich um. Ihr Vater kam die Treppe herunter. Sein Gesicht war so ernst, dass sie zu Tode erschrak. Sie hatte nur noch einen Gedanken. »Wo ist Francisco?« »In der Schlafkammer.« »Was? Um diese Zeit?«
Während ihre Schwester Reyna in die Küche brachte, nahm ihr Vater sie bei der Hand.
»Ein Arzt ist bei ihm. Es geht ihm nicht gut.« Er drückte ihre Hand. »Du ... du musst jetzt stark sein, mein Kind, ganz stark.« »Nein ...« Gracia hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter ihr auftat. »Was ... was ist passiert?«, flüsterte sie. »Geh zu deinem Mann«, sagte ihr Vater. »Schnell! Er braucht dich jetzt bei sich.«
35
Obwohl draußen die Sonne hell vom Himmel schien, war es in der Schlafkammer so dunkel, dass Gracia zuerst nur die helle Wand sah und das verhangene Bett, das sich wie ein riesiger, unheimlicher Tabernakel davon abhob. Ein süßlicher und gleichzeitig bitterer Geruch lag in der Luft, wie die Ausdünstungen eines Tieres, das sich irgendwo verkrochen hat. Auf dem Bettrand, mit dem Rücken zur Tür, saß Dr. Rodrigo, der Arzt, den Gracia seit Reynas Geburt kannte. Plötzlich hatte sie nur noch Angst.
»Warum ist es so dunkel?«, fragte sie, vollkommen unsinnig und ohne zu wissen, warum. »Man kann ja gar nichts sehen.« Der Arzt drehte sich um, mit einem Finger an den Lippen. »Psst«, machte er und stand auf. »Er schläft.«
Als Gracia das Bett sah, stutzte sie. In den Laken lag ein Fremder, ein Greis. Sein Gesicht war so weiß wie das Leinen, und seine Locken klebten schweißnass an der Stirn. Warum lag dieser Greis im Bett ihres Mannes? Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie ihn. »Francisco ...« Sie setzte sich zu ihm, griff nach seiner Hand. Sein Kopf rollte unruhig auf dem Kissen hin und her, vor Schmerz stöhnte er laut auf. Seine Hand in ihrer war kalt und feucht. Gracia schloss für eine Sekunde die Augen. War er überhaupt noch hier in diesem Raum? Oder war er schon im Paradies?
»Was ... was ist passiert?«, fragte sie. »Heute Morgen war er doch noch ...«
»Er hatte heftige Schmerzen«, erwiderte Dr. Rodrigo. »Man hat nach mir gerufen, kurz nachdem Ihr fort wart. Aber als ich kam, war er schon ohnmächtig, ich fand ihn in seinem eigenen Erbrochenen am Boden. Sein Unterleib war aufgetrieben, und die Bauchdecke fühlte sich an, als müsste er platzen. Eine Geschwulst, so groß wie ein Kindskopf. Wahrscheinlich Kotmassen, die sich in seinen Gedärmen angestaut haben.«
»Weshalb steht Ihr dann hier herum? Tut etwas! Um Himmels willen!«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich habe alles getan, was ich konnte. Ich habe ihn zur Ader gelassen und Blutegel angesetzt. Mehr Möglichkeiten haben wir nicht. Euer Vater hat schon nach dem Priester geschickt.« »Nach dem Priester?«
Sie wollte etwas erwidern - da sah sie ein Zucken in Franciscos Gesicht. Er öffnete die Augen. Der Arzt verließ leise die Kammer. Im Dämmerlicht nahm sie ein kleines, schwaches Lächeln wahr. »Gracia? ... Du?« Nur stockend brachte Francisco die Worte hervor. »Dem Himmel sei Dank ... Ich hatte ... solche Angst, du kommst nicht mehr, bevor ich ...«
»Pssst«, machte Gracia. »Du darfst dich nicht anstrengen ... Du weißt doch, dein Herz ...«
»Mein Herz, ja ... mein Herz«, wiederholte er. Erschöpft schloss er die Augen, um Kraft zu sammeln. Dann schaute er sie wieder an. »Es ... es geht zu Ende ... mit mir.«
»Was sagst du da? Das darfst du nicht! Du machst mir Angst!«
»Nein, Gracia. Gott... er hat es so beschlossen ... Wir haben keine Zeit mehr ... für Lügen. Ich ... ich weiß, dass ich sterben muss.«
»Bitte, Francisco, ich flehe dich an! Es gibt gute Nachrichten!
Nachrichten aus Rom! Der Papst hat entschieden - gegen die Inquisition! Wir können ...«
Sie spürte den Druck seiner Hand und schwieg.
»Ich habe ... nur wenige Minuten, Gracia. Ich ... spüre es ...«
Sie berührte seine Stirn. Sie war glühend heiß. Tränen schössen ihr in die Augen.
»Nein, Francisco, bitte. Wir ... wir wollen doch fort, du und Reyna und ich, nach Konstantinopel. Du ... du darfst uns nicht verlassen. Wir brauchen dich ...«
»Wie ... gern würde ich mit euch kommen, mit dir und Reyna ... Unser kleiner Engel... Aber ... ich kann nicht ... Ich ... ich habe nicht mehr die Kraft.«
Erneut überfielen ihn die
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