Die Gottessucherin
Tag seines Todes der Erde übergeben werden. Doch nicht einmal dieses Gebot hatte Gracia erfüllen können - die jüdische Eile hätte sie verraten. Sie hatte ihm nur ein Säckchen palästinensischer Erde in den Sarg legen können. Die anderen Gebote hatte sie erfüllt, so gut es ging, ohne sich der Juderei verdächtig zu machen. Sie hatte im Haus die Spiegel verhängt und Wasser ausgeschüttet, um alle bösen Geister und Dämonen zu vertreiben, die Franciscos entschwindender Seele begegnen könnten. Den Leichnam hatte die Chewra Kaddischa, die Beerdigungsgemeinschaft, gewaschen und in frisches Leinen gehüllt, und Gracia hatte ihm eine Perle in den Mund gesteckt, für seine Reise in die andere Welt. Als sie sein Gesicht mit einem Laken bedeckte, musste sie an ihre Hochzeit denken. Wie stolz war er gewesen, als er mit dem Schleier ihr Gesicht bedeckte, um von ihr Besitz zu nehmen, und wie sehr hatte sie ihn verletzt, als sie das Ritual ohne jede Regung über sich hatte ergehen lassen ... Während der gesamten Totenwache verfolgte sie die Erinnerung daran, bis sie mit Reyna Abschied nahm von Francisco. Dann hatten die Gemeindeältesten den Sarg geschlossen und er zum allerletzten Mal sein Haus in der Rua Nova dos Mercadores verlassen.
»Herr, erinnere dich seiner guten und gerechten Taten, als er noch unter den Lebenden weilte.«
Ein Chor begann zu singen, und während der katholische Totengesang von Franciscos Grab zum Himmel aufstieg, formten Gracias Lippen unhörbar leise die Worte des Kaddishs - ein letztes heimliches Trauergeleit für ihren Mann. Doch der Schmerz in ihrer Seele war so groß, die Einsamkeit, in der Francisco sie zurückließ so unwiderruflich, dass die Worte des Gebets, die sie schon Tausende und Abertausende Male gesagt hatte, ihr kaum über die Lippen wollten.
Nein, nicht nur ihr Mann, auch Gott hatte sie verlassen. Obwohl sie sich selbst aufgeopfert hatte, um ihre Schuld zu sühnen, hatte Gott ihr Francisco genommen.
Mit einem Ton, so zart und zerbrechlich wie Glas, verhallte der Chor in der Abendluft.
»Ist Vater jetzt im Himmel?«
Reynas Frage zerriss Gracia das Herz. Laut schluchzte sie auf, und endlich lösten sich ihre Tränen.
Während Brianda die Tochter vom Grab fortführte, schlug die Totenglocke an, und bald kamen die ersten Trauergäste, um ihr Beileid zu bekunden. Gracia nahm die zahllosen Gesichter kaum wahr. Endlos schien der Zug all der Frauen und Männer, die immer wieder dieselben Worte sagten, die immer wieder ihre Hand drückten oder sie umarmten. Viele waren ihr vertraut, einige kannte sie nur von ferne, andere waren ihr vollkommen fremd. Sogar Vertreter des Königs waren gekommen - durch das Erbe, das Francisco ihr hinterließ, war sie die reichste Witwe Lissabons, und über ein Dutzend Männer verbanden bereits am Grab die Worte des Beileids mit der Ankündigung eines baldigen Besuchs.
Ganz am Ende der Prozession trat Rabbi Soncino auf sie zu, um nach jüdischem Brauch zum Zeichen der Trauer den Saum ihres Gewandes einzureißen. »Warum musste er sterben?«, fragte Gracia. »Der Herr lässt Gerechtigkeit walten, und alle gehen den gleichen Weg«, erwiderte der Rabbiner. »In unseren Herzen lebt Francisco Mendes fort. Er hat mehr als jeder andere für unsere Gemeinde getan. Ihm haben wir zu verdanken, dass wir hier bleiben können, ohne Inquisition.«
»Aber Gott hat ihn trotzdem getötet. Warum hat er nicht mein Leben genommen?«
»Wollt Ihr über den Herrn und König richten? Sein Zorn ist Zeichen seiner Gegenwart, der Beweis, dass er Euer Schicksal lenkt.«
Gracia wollte etwas erwidern, aber es fehlte ihr die Kraft. Ohne ein Wort ergriff sie das Ende ihres Saums, um den Riss in ihrem Gewand mit eigenen Händen zu vergrößern. Dann wandte sie sich ab und verließ das Grab in Richtung Ausgang, wo ein Wasserbecken für die Trauergäste bereitstand.
War es Weihwasser? Oder hatten Juden das Becken aufgestellt, zur Waschung der Hände beim Verlassen des Friedhofs, wie es das Gesetz vorsah?
Gracia tauchte ihre Hand in das Wasser. Die Antwort war ihr auf einmal so gleichgültig wie ihr ganzes künftiges Leben.
37
Sieg! Sieg! Sieg!
Ein Jubelschrei hallte durch Europa. In der afrikanischen Berberei war Kaiser Karl gegen die mohammedanischen Teufel zu Felde gezogen, und nach einem langen, schweren Kampf, der die ganze Christenheit in Atem hielt, hatte er die Türken niedergeworfen und die Stadt Tunis erobert. Endlich hatte das Kreuz wieder einen Sieg über
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