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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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»Was habe ich denn getan?«
    »Das wagst du zu fragen?« Cornelius Scheppering zückte ein mit Zahlen vollgekritzeltes Pergament und hielt es dem Angeklagten vors Gesicht. »Was ist das?«
    Samuel Usque schwieg, aber die Verzweiflung in seinen Augen war Antwort genug.
    Cornelius Scheppering nickte. »Ja, ich habe die Zahlen entschlüsselt.«
    Sorgsam faltete er das wertvolle Schriftstück wieder zusammen und ließ es im Ärmel seiner Kutte verschwinden. Es enthielt mit den gematrischen Zeichen ein nahezu vollkommenes Geständnis. Man hatte das Pergament in Samuel Usques Kammer gefunden, und beinahe auf Anhieb hatte Cornelius Scheppering den Schlüssel zur Dekodierung der Zahlenreihen erraten: das Datum jenes vermaledeiten Tages, an dem Gracia Mendes mit ihren Angehörigen in Antwerpen gelandet war. Bei der Lektüre des Berichts hatten in seiner Brust heiliger Zorn und unverhofftes Glück miteinander gewechselt. Mit der Akribie des Juristen hatte Samuel Usque seine vielen Reisen nach Portugal beschrieben: Wie er die jüdischen Ketzer in Lissabon aus den Verliesen der Inquisition befreit hatte; wie er sie gedrängt hatte, sich vom katholischen Glauben abzuwenden und sich wieder zum Judentum zu bekehren; wie er sie in die Niederlande gebracht hatte, von wo aus ganze Heerscharen von Juden zum letzten und eigentlichen Ziel ihrer Flucht aufgebrochen waren - nach Konstantinopel, in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, wo der Erzfeind der Christenheit regierte und den Mosessöhnen Zuflucht bot. Gab es schlimmere Verstöße gegen päpstliches Recht? Cornelius Scheppering brauchte nur noch den Namen der Person, die Samuel Usque zu seinen Missetaten genötigt hatte, und die Geldquelle des Kaisers würde auf der Stelle versiegen. Jan van der Meulen, dieser fromme, glaubensfeste Markgraf aus Brügge, der in seinem Auftrag um die Hand von Reyna Mendes anhalten sollte, konnte vielleicht schon bald das Aufgebot für die Hochzeit bestellen.
    Samuel Usque stöhnte und winselte wie ein Tier. Trotzdem überwand Cornelius Scheppering seinen Abscheu und trat an die Folterbank, um das schwere Werk zu vollenden, das Gott ihm auferlegt hatte.
    »Wer gab dir zu deiner Reise den Befehl?«, fragte er. »Wer hat dir befohlen, fromme Katholiken zum Judentum zu bekehren?« »Niemand!«, erwiderte Samuel mit schmerzerstickter Stimme. »Ich habe alles aus eigenem Willen getan!« »Nein! Du lügst! Man hat dich zu deinen Verbrechen gezwungen! Sag mir den Namen - und du bist erlöst!« Samuel Usque schüttelte nur stumm den Kopf. Cornelius Scheppering tat einen tiefen Seufzer. Der Anblick der gequälten Kreatur zerriss ihm das Herz, und es erfüllte ihn mit Mitleid, wie einst Maria Magdalena beim Anblick des Herrn unter dem Kreuz empfunden haben musste. Was sollte er tun? Im Gegensatz zu seinem Widersacher Aragon, der nicht davor zurückschrak, einem Delinquenten einen Finger oder sonstige Gliedmaßen abzutrennen, wenn es der Wahrheitsfindung diente, hielt Cornelius Scheppering sich streng an die Vorschrift, wonach keinem Angeklagten bleibender Schaden zugefügt werden durfte, wie schwer die Verfehlung auch immer wog, die ihm zur Last gelegt wurde. Doch er brauchte ein Geständnis, ohne ein Geständnis gab es nach der päpstlichen Prozessordnung keine Wahrheit - und so verstockt wie Samuel Usque war kaum je ein Delinquent gewesen. Er hatte schon der Wasserfolter und dem Flaschenzug widerstanden, ohne sein letztes Geheimnis preiszugeben.
    Der Schweiß floss Cornelius Scheppering in Strömen von der Stirn. »Den Namen!«, wiederholte er mit solcher Inbrunst, als ginge es um sein eigenes Leben.
    Doch wieder blieb Samuel Usque die Antwort schuldig. Obwohl es ihn fast übermenschliche Überwindung kostete, gab Cornelius Scheppering dem Henker erneut ein Zeichen. Doch niemand konnte verlangen, dass seine Augen dem schaurigen Schauspiel zusahen, das auf seinen Wink hin nun begann. Während er sich abwandte, um einer Ohnmacht zu entgehen, hob hinter seinem Rücken ein fürchterliches Bersten und Krachen an, durchsetzt von gellenden Schreien. Die unbedingte, unbeugsame, alles zermalmende Gerechtigkeit tat ihr Werk, jene göttliche Allmacht, die, einmal in Gang gesetzt, sich durch nichts und niemanden mehr aufhalten lässt.
    Wie eine unsichtbare Urgewalt füllte sie die Folterkammer, übertrug sich auf Cornelius Schepperings ganzen Körper, ein unaufhaltsam wachsender Druck in seinem Leib, in seinen Gliedern, in seinem Kopf, ein tobender, wütender,

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