Die Gottessucherin
Plötzlich verwandelte sich Briandas Angst in Wut. »Tatsächlich?«, schrie sie. »Von morgens bis abends steckt ihr zwei hier zusammen und heckt irgendwelche Dinge aus, über meinen Kopf hinweg und ohne mich zu fragen. Mit welchem Recht? Gracia ist eine Frau - sie hat nichts im Kontor zu suchen! Und jetzt wollt ihr auch noch dafür sorgen, dass sie uns einsperren!« »Niemand will das. Wir wollen nur ...«
»Ach, tut doch, was ihr wollt!« Brianda rauschte zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. Obwohl sie vor Erregung zitterte, sprach sie so klar und deutlich, wie man klarer und deutlicher nicht sprechen konnte. »Übrigens, Gracia, fast hätte ich es vergessen - Amatus Lusitanus war gestern bei mir. Er hat um deine Hand angehalten.« »Wie bitte?«
»Ja, du hast richtig gehört. Ich soll dich fragen, ob du seine Frau werden möchtest. Vielleicht verrät dir mein Mann ja, was er davon hält. Damit du dich leichter entscheiden kannst.« Mit lautem Knall fiel die Tür ins Schloss, und Diogo war mit Gracia allein.
Ihr Schweigen füllte das ganze Kontor. »Und?«, fragte Diogo nach einer Weile. »Was - und?«
»Was werdet Ihr Amatus Lusitanus sagen?« Während er auf ihre Antwort wartete, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass Gracia fast schwarze Augen hatte, und der Mund trocknete ihm aus.
Warum? Weil ein anderer Mann sie zur Frau begehrte? Gracia schüttelte den Kopf. »Wir haben jetzt andere Sorgen«, erwiderte sie. »Sagt Samuel, man soll die Leute in
mein
Haus bringen. Nein, ich will es so«, fügte sie hinzu, als Diogo protestieren wollte. »Dann haben sie ein Dach über dem Kopf, und Brianda braucht keine Angst zu haben.«
13
»Gepriesen seist Du, Adonai, unser Gott, der König der Welt, der Du den Schlaf auf meine Augen herniedersinken lässt.« Drei Sterne waren bereits am Himmel aufgezogen, als die Flüchtlinge in der kleinen Synagoge von Gracias Haus mit dem Abendgebet begannen. Es roch muffig in dem Kellergewölbe, nach modrigen Pilzen und verschwitzten, ungelüfteten Kleidern. Seit fast vier Wochen schon hausten hier Dutzende von Menschen zusammen, ohne sich ins Freie zu wagen. Zum Glück war unter ihnen ein Chasan, der die Gottesdienste leiten konnte, und ein Minjan, zehn Männer, die man für einen Gottesdienst ebenso benötigte - dreimal täglich einen Vorbeter und zehn Männer ins Haus zu holen wäre zu gefährlich gewesen. »Denn Du, o Gott, unser Hüter und unser Retter bist Du, denn ein Gott, der gnädig und barmherzig waltet, bist Du. Und wahre unseren Ausgang und unseren Eintritt zum Leben und zum Frieden von nun an bis in Ewigkeit.«
Wie jeden Tag verband die kleine Gemeinde das Abendgebet mit einem Dank für die Rettung aus der Heimat. War ihre glückliche Flucht nicht Beweis, dass Gott der Herr trotz Verfolgung und Not bei ihnen war? Mit jedem Flüchtlingsschiff aus Lissabon, das sicher den Hafen von Antwerpen erreichte, fühlte Gracia sich in ihrem Glauben bestärkt. Doch noch während sie die Worte leise mitsprach, fiel ihr Blick auf ihre Tochter, und in das Gefühl der Dankbarkeit mischte sich bittere Galle. Ausgerechnet Reyna bewegte kaum die Lippen, um mit den anderen Gott zu danken, und von den Flüchtlingen hielt sie sich so fern, als fürchtete sie, sich Läuse oder Flöhe einzufangen. Von Anfang an hatte sie ihren Widerwillen gegen Gracias Schutzbefohlene zu erkennen gegeben. Am ersten Abend hatte sie sich sogar geweigert, mit ihnen an einem Tisch zu essen, so dass Gracia sie dazu hatte zwingen müssen. Reyna hatte Angst vor den fremden Menschen in den schmutzigen und zerrissenen Kleidern, die so anders waren als sie selbst, die bei den Mahlzeiten gierig wie Tiere nach dem Brot griffen und mit beiden Händen ihre Trinkbecher umklammert hielten, als hätten sie Angst, jemand könnte sie ihnen entreißen, und Gracias Erklärung, dass diese Frauen und Männer keine bedrohlichen Höhlenwesen wären, sondern ihre jüdischen Schwestern und Brüder, hatte Reyna nur noch mehr verstört. War sie vielleicht zu oft mit ihrer Tante zusammen ? Erst gestern hatte Gracia sie dabei überrascht, wie sie vor dem Spiegel stand, um sich in einem neuen Kleid zu bewundern, das Brianda ihr geschenkt hatte, ein Kleid mit einem tiefen Ausschnitt und Schellen an den Schultern, die beim Gehen leise klingelten.
»Gepriesen sei Adonai am Tage, gepriesen sei Gott des Nachts; gepriesen sei Gott, wenn wir uns niederlegen, gepriesen, wenn wir aufstehen.«
Das Abendgebet war noch
Weitere Kostenlose Bücher