Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
ikarischen Blut, das wir Euch vererbt haben.
Ich habe die meinen von Wolfstern und Axis die seinen
von Sternenströmer bekommen.«
»Ja, klar, weiß ich doch.« Wollte sie ihn etwa mit endlosen Ausführungen über seine Abstammung foltern?
Sah so ihre Vorstellung von Bestrafung aus? Was für
eine dämliche Ziege.
»Drachenstern«, fuhr Aschure schon fort, »die Zauberkraft erhielten wir von unseren Vätern, Euren Großvätern. Von Euren Großmüttern jedoch, Rivkah auf der
einen Seite, die hier als Zeugin zugegen ist, und von Niah, die leider nicht hier weilen kann, habt Ihr einen genauso hohen Anteil an menschlichem Erbe erhalten.«
Der Knabe schwieg, während seine Gedanken fieberhaft arbeiteten und er verzweifelt herauszufinden versuchte, was seine Mutter eigentlich vorhatte.
»Ihr besitzt also gleich viel Blut der Ikarier wie der
Menschen. Bislang hat sich in allen Mischverbindungen
zwischen den Völkern stets das Blut der Vogelmenschen
als das dominantere erwiesen.«
»NEIN! Das wagt Ihr nicht!«
»Ich würde so etwas auch nie tun, wenn Ihr es unterlassen hättet, mich so schrecklich zu hintergehen und mir
das Liebste nehmen zu wollen. Doch aufgrund Eurer Untaten werde ich die Anteile in Eurem Blut umkehren.
Wenn ich aufgehört habe zu sprechen, wird sich das
Menschenblut in Euch als das vorherrschende erweisen –
und das ikarische Blut sich ihm unterwerfen. Drachenstern, hiermit nehme ich Euch das Erbe des ikarischen
Blutes und verdamme Euch zu einem Menschendasein!«
»NEIN!« Er schüttelte und wand sich auf dem Tisch
und stach mit seinen Fäusten in die Luft.
»Eure Flügel werden sich niemals entwickeln, und Ihr
werdet nicht fliegen können.«
»Nein …«
»Eure Zauberkräfte werden nie mehr erwachen und
daher auch nicht mehr eingesetzt werden können. Und
nicht ein einziges Mal werdet Ihr noch die liebliche Musik des Sternentanzes vernehmen.«
Vom Sternentanz abgeschnitten? Nie mehr seinen
wunderbaren Klang vernehmen? Nie mehr Zauberkräfte
von ihm abzapfen? Der Kleine schrie aus Leibeskräften.
»Euer Leben ist hiermit auf die kurze Spanne eines
Menschenlebens beschränkt. Eure Schwester und Euer
Bruder werden zusehen, wie Ihr vor ihren Augen altert.
Wie Ihr schon sterbt, wenn sie noch jung an Jahren sind.
Versucht, das Beste aus Eurem Leben zu machen, denn
sehr viel Zeit wird Euch dafür nicht zur Verfügung stehen.«
Aschure mußte jetzt ihre Stimme erheben, um sich
über sein Geschrei hinweg verständlich zu machen. »Und
schließlich, Drachenstern, verdamme ich Euch zu etwas,
was Euch als die grausamste Strafe erscheinen mag. Ihr
sollt nämlich als menschlicher Säugling heranwachsen.
Damit verliert Euer Verstand all seine Schärfe, und die
nächsten Jahre werdet Ihr in der geistigen Einfachheit
und Schlichtheit eines Menschensäuglings und Kleinkindes verbringen.«
Sie stellte sich vor ihn und starrte ihn an. Nun konnte
sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten, und ihre Arme
hielten Caelum fest an sich gedrückt, der ebenfalls weinte.
»Ich nehme Euch schließlich auch Euren ikarischen
Namen, denn für den habt Ihr nie mehr Verwendung.«
»Neiiiiin!«
Die Zauberin mußte sich mit aller Gewalt zusammenreißen, und dennoch brachte sie ihre letzten Worte nur
tränenerstickt hervor: »Und damit höre ich auf zu sprechen … Kind.«
Völliges Schweigen breitete sich auf dem Turm aus.
Schließlich näherte sich Aschure einer der Ikarier.
»Zauberin, von ihm geht nicht mehr aus als etwas Unbehagen darüber, so nackt dem Wind ausgesetzt zu sein.«
Die Mutter nickte, denn einen Moment lang hatte sie
keine Stimme mehr. Endlich reichte sie Caelum an Rivkah weiter, und diesmal hatte der Knabe nichts dagegen
einzuwenden, von seiner Großmutter gehalten zu werden.
Aschure beugte sich dann über den Säugling und
nahm ihn in die Arme. »Was seid Ihr doch für ein hübsches Kind«, flüsterte sie heiser. »Willkommen wieder
bei uns in der Familie … Drago.«
Dann drehte sie den Kopf so weit nach hinten, daß sie
fast senkrecht in den Himmel blickte. »Und nun auf zur
Greifenjagd!«
18 K RALLENTURM
Rabenhorst wandte den Blick von den Eisdachalpen, die
sich unter und vor ihm erstreckten und lächelte seine
Gemahlin an, die im rosigen Dämmerlicht vor ihm stand.
Die beiden hatten keine sonderlich leidenschaftliche Beziehung zueinander gehabt – schließlich floß kein Sonnenfliegerblut in Hellefeders Adern –, aber sie hatten es
verstanden, sich gegenseitig zu ehren und zu
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