Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
achten.
»Bereut Ihr unsere Entscheidung?« fragte der Krallenfürst.
Die Ikarierin lächelte und nahm seinen Arm. Der frische Wind zauste an ihrem Haar und Gefieder. »Ich
könnte niemals den Krallenturm verlassen. Genauso wenig wie Euch. Ihr hattet recht, mein Gemahl, als Ihr sagtet, daß in der neuen Welt kein Platz mehr für uns sei.
Nur … wenn doch …«
»Ihr bedauert es, Freierfall nicht noch einmal gesehen
zu haben, nicht wahr?«
Hellefeder nickte, und ihre Augen glänzten feucht.
»Sehr sogar. Ich konnte es kaum fassen, als ich erfahren
durfte, daß … daß Axis ihn aus dem Land der Toten zurückgeholt habe. Zwei Jahre ist das nun her, mein Gemahl, und in der ganzen Zeit hat er nicht einmal eine
Gelegenheit gefunden, zu uns heimzukehren, um uns
wiederzusehen.«
»Er gehört eben zu der neuen Welt, mein Herz«, entgegnete Rabenhorst leise. Hellefeder sah ihn liebevoll an
und genoß diesen Moment der Innigkeit und Zuneigung
sehr.
»Und zu Abendlied«, fügte die Vogelfrau hinzu.
Schweigend standen die beiden da und ließen die einmalige Aussicht auf sich einwirken.
»Glaubt Ihr, sie werden wirklich kommen?« fragte
Hellefeder, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen.
Ihr Gemahl dachte ernsthaft darüber nach. »Aschure
meinte nur, sie könnten uns angreifen. Wer weiß, wie
ernst man ihre Bedenken nehmen muß …«
Die Ikarierin fröstelte ein wenig, und Rabenhorst legte
einen Flügel um sie. »Der Krallenturm kommt mir so leer
vor, mein Gemahl. Bar aller Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, den typischen Eigenschaften unseres Volkes.
Auch das vermisse ich.«
»Unsere Brüder und Schwestern verbreiten ihre Fröhlichkeit und Ausgelassenheit sicher längst unter den
Achariten. Nun kommt wieder mit herein. Was haben wir
eigentlich hier oben auf dem Flugbalkon verloren, wo
wir nur vom kalten Wind geplagt werden?«
»Dafür hat man hier aber die schönste Aussicht auf die
Eisdachalpen«, erwiderte sie. »Und ihretwegen kommen
wir doch schon seit zweihundertfünfzig Jahren hier heraus.«
Rabenhorst umarmte sie kurz, dann wandten beide ihre Blicke von den hohen Gipfeln ab und kehrten still in
den Krallenturm zurück.
Wären sie eine Minute länger draußen geblieben, hätten sie sicher den schwarzen Strich bemerkt, der vom
Horizont im Osten heranschwebte.
Gorgraels Wüten und Schmerz hatte die Greifen fast in
den Wahnsinn getrieben. Für sie gab es nun kein anderes
Ziel mehr, als durch ein Blutbad, das anzurichten sie sich
anschickten, seinen ohnmächtigen Zorn und seine Seelenqualen ein wenig zu lindern. Seine Stimme hallte noch
in ihren Köpfen nach, und sie wollten ihm unbedingt zu
Gefallen sein und zerstören.
Eine Wolke von siebentausendzweihundertundneunzig
Himmelsbestien flog gegen den Krallenturm. Sie hatten
alle vor einem Monat geworfen, und mittlerweile konnten ihre Jungen sich selbst versorgen. Die Mütter hatten
nun wieder Zeit, und sie hatten großen Hunger.
Die Heimstatt der Ikarier verfügte zwar über zahllose
Eingänge, doch erwiesen sie sich als ziemlich schmal.
Der Gipfel des Berges war darum für über eine halbe
Stunde von einer wimmelnden schwarzen Masse bedeckt, während die Greifen versuchten, nach und nach in
das Bauwerk hineinzugelangen.
Kaum hatten sie Einlaß gefunden, begann das Massaker.
Viele Vogelmenschen starben in der Großen Versammlungshalle, wo sie zusammengeströmt waren, um
des Lebens vor der Zeit der Prophezeiung zu gedenken.
Andere kamen in den Schächten und Gängen des Krallenturms ums Leben. Und noch mehr hauchten in der
Kammer des Dampfenden Wassers ihr Leben aus. Viele
der Ikarier, die hier wie in einer Falle saßen, erlitten einen langsameren und grausameren Tod als die Männer
und Frauen in den Gängen und Gemächern der Burg.
Denn hier tauchten die Vogelmenschen unter Wasser, um
den Angriffen zu entgehen. Aber irgendwann mußte ein
jeder von ihnen an die Oberfläche zurück, um Luft zu
schöpfen. Und kaum schoben sie den Kopf über Wasser,
wurde dieser augenblicklich von Krallen gepackt. Die
Himmelsbestien zogen sie aus dem Becken, und mochten
sie auch noch so sehr mit Armen und Beinen strampeln,
die Greifen schleuderten sie auf die Ruhebänke, um hernach einen Festschmaus abhalten zu können.
Alle Bewohner des Berges fanden den Tod. Doch
wunderbarerweise starb jeder von ihnen mit Frieden im
Herzen.
Rabenhorst Sonnenflieger, der Krallenfürst der Ikarier,
und seine Gemahlin Hellefeder gingen in ihrem Gemach
zugrunde. Sie
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