Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
gehörten zu den letzten, die ihr Leben verloren, denn die Greifen brauchten eine Weile, bis sie bis
zu ihnen vorgestoßen waren. Und deswegen brachten die
Himmelsbestien sie auch auf besonders schreckliche
Weise um. Über eine Stunde lang mußten der Fürst und
seine Gemahlin die Schmerzensschreie und das Todesröcheln ihres Volks, das Gekreisch der Greifen und allgemeines Kampfgetümmel mit anhören, bis das erste Ungeheuer in ihre Räumlichkeiten kroch.
Die Bestie blieb sofort stehen, als sie die beiden entdeckte. Starrte sie mit ihren fiebrig roten Augen an und
verpestete die Luft mit ihrem fauligen Atem. So kauerte
der Greif im Eingang, wackelte mit dem Kopf und schien
zu überlegen, welchen von beiden er zuerst reißen sollte.
Dann schrie das Wesen mit der gräßlichen Stimme der
Mordlust, und seine Drachenkrallen kratzten über kostbaren Mosaikboden, als es auf den Fürsten und seine Gemahlin zu stürmte.
Hellefeder schrie und sank zu Boden. Rabenhorst versuchte sinnloserweise, sie mit seinem Körper zuschützen.
Die Vogelfrau spürte nur für einen viel zu kurzen
Moment die warme Schwere seines Leibes, und als sie
den Mund zu einem weiteren Schrei öffnete, blieb er ihr
im Halse stecken; denn sie mußte mitansehen, wie der
Greif ihren Gemahl bis unter die Decke hob und dabei
Stück für Stück aus seinem Leib herausriß.
Da ihr Mund immer noch offenstand, bekam sie Rabenhorsts Blut zu schmecken, das aus mehreren Wunden
aus ihm herausströmte. Hellefeder ließ sich zurückfallen,
würgte und bekam vor lauter Entsetzen immer noch keinen Ton hinaus.
Deswegen empfand sie auch keine Überraschung, als
ein zweiter Greif, angelockt vom Geruch des Blutes, hereinstürmte, sie packte und ihr mit einem Schnabelhieb
den Kopf abtrennte.
Gorgrael hatte erwartet, daß seine Greifen das gewaltige
Blutbad genießen würden, das sie im Krallenturm anrichteten. Aber zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen,
daß die große Mehrheit der Vogelmenschen ihr langjähriges Heim bereits verlassen hatte. Als die Himmelsbestien dann auf dem Gipfel warten mußten und laut darüber
klagten, daß sie nicht schnell genug in das Bauwerk hineinfanden, sprach der Zerstörer beruhigend in ihre Gedanken und verhieß ihnen Zehntausende Ikarier, die sich
in den Kammern und Winkeln des Berges versteckt halten mußten.
Und diese Aussicht steigerte die Mordlust der Himmelsbestien ins Unermeßliche.
Aber schon eine Stunde, nachdem der erste Greif eingedrungen war, lagen alle Ikarier zerrissen oder zerhackt
da. Das konnten die Angreifer nicht verstehen. Sie jagten
noch lange durch die Gänge und Schächte, heulten vor
Hunger und Blutgier und dachten auch an ihre Aufgabe,
ihrem Herrn einen Gefallen zu tun.
Vor ihnen tanzten Schatten und Trugbilder, die ikarische Zauberer schon vor Generationen geschaffen hatten,
um Feinde in die Irre zu führen und sie vor allem von den
ältesten Gemächern im Innern des Berges fernzuhalten;
denn dort sollten sich im Notfall Tausende Vogelmenschen verbergen können.
Doch diese erwiesen sich nun als leer, und was sie
enthielten, besaß weder Leben noch Flügel. Aber die
Zauber wirkten weiter: Die Himmelsbestien ließen sich
von den Trugbildern so in die Irre führen, daß sie teilweise übereinander herfielen und sich gegenseitig zerfleischten.
Dennoch ließ die Masse der Bestien sich, angetrieben
von ihrem Verdruß, ihrem Hunger und ihrer Wut, nicht
allzu lange aufhalten und drang immer tiefer in den Berg
vor.
Sie fanden aber nicht den Eingang zur Unterwelt, denn
der Fährmann hatte von dem Entsetzlichen gehört, das
sich in der Burg abspielte, und den Brunnenschacht mit
mächtigen Zaubern umgeben. Danach hatte er sich wieder mit Tränen in den Augen in seinen Kahn gesetzt, um
sich ziellos treiben zu lassen.
Gorgrael wußte nichts von den Schutzzaubern im
Krallenturm, und deswegen ahnten auch seine Schoßtiere
nichts davon. Der Zerstörer wußte auch dies nicht: Je
tiefer die Greifen in den Berg gelangten – und jeder von
ihnen drang in seiner Gier so weit vor, wie er nur vermochte –, desto stärker würden seine Gedanken durch
den massiven Fels und all die Zauber von ihnen abgeschirmt.
Schließlich waren die Himmelsbestien vollkommen
von der Stimme ihres Herrn abgeschnitten und erhielten
keine neuen Befehle mehr.
Sie wußten nur, daß sie die Zehntausende von Ikariern
aufspüren und vernichten mußten. Irgendwo hier unten
würden die Vogelmenschen sich versteckt halten.
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