Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
dachte sie, wenn Drachenstern bereits damals so viel Haß ausgeströmt hatte. »Wißt
Ihr eigentlich, wer wir in Wahrheit sind, mein Sohn?«
»Gewiß«, antwortete er überheblich, »Ihr seid der
Mond, und Axis das Lied.«
Diese Worte verblüfften die beiden Ikarier über alle
Maßen. Aschure mußte ihnen einen strengen Blick zuwerfen, weil sie in ihrer Verwirrung den Zauberbann
kaum noch aufrechterhalten konnten.
Auch Rivkah sah ihre Schwiegertochter mit offenem
Mund an.
»Und Ihr seid ein Narr, Drachenstern«, giftete die
Zauberin vor allem aus Ärger über sich selbst. Gegen
ihren Willen sammelten sich nämlich Tränen in ihren
Augen. Aber nach einer Weile konnte sie ihm ihre nächste Frage stellen.
»Habt Ihr Kassna an dem Tag, an dem Caelum entführt wurde, dazu veranlaßt, mit Euch auf den Turm zu
steigen?«
»Natürlich.«
Soviel Unverfrorenheit machte die Jägerin für einen
Moment sprachlos. »Und habt Ihr dann Gorgrael durch
den Dunst geführt und die Brücke belogen?«
»Auch das habe ich getan.«
Von tief unten meldete sich nun auch die Brücke zu
Wort: »Ihr seid nicht reinen Herzens! Warum habt Ihr
das getan?«
»Ja, warum?« wollte auch Aschure wissen.
»Weil ich der Erbe sein muß.« Er schwieg und schien
nachzudenken. Dann meinte der Kleine: »Ihr müßt über
sehr viel Macht verfügen, Frau Mutter, wenn es Euch
gelungen ist, Caelum zu befreien.«
Aschure schloß einen Augenblick lang die Augen. Nie
zuvor hatte er sie so ehrenvoll angeredet.
»Drachenstern, ich kann und darf Euch eine solche
Untat nicht durchgehen lassen.«
Aber statt zu erschrecken, lachte der Säugling schallend. »Und was wollt Ihr mir antun, Mutter? Mich über
die Brüstung werfen? Mich vor all diesen Zeugen hier
erwürgen? Oder mich fortschicken? Ihr solltet wissen,
daß ich dann eines Tages zu Euch zurückkehren werde.
Nur der Tod könnte mich davon abhalten. Ihr müßtet
mich also umbringen, Frau Mutter. Seid Ihr dazu in der
Lage?«
Kassna starrte sofort die Zauberin an, weil sie mit
bangem Herzen, aber fest damit rechnete, daß diese genau das vorhatte.
»Nein«, flüsterte Aschure jedoch, »das kann ich nicht
tun. Obwohl ich der festen Überzeugung bin, daß Ihr an
meiner Stelle nicht davor zurückschrecken würdet.«
Der Kleine lachte wieder. »Dann könnt Ihr mir nichts
anhaben. Eure eigene Weichherzigkeit steht Euch im
Wege.« Drachenstern hatte genau das erwartet. Andernfalls hätte er kaum den Mut aufgebracht, seine Tat so
schamlos offen einzugestehen. Seine heimtückischen
Vergehen hätten schwerste Bestrafung verdient, aber
welche Mutter wäre je in der Lage, bei ihrem eigenen
Kind Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Ganz gewiß
nicht Aschure, die als Kind selbst so viel hatte leiden
müssen.
Oh ja, der Knabe hatte alles ganz genau berechnet.
»Bei den Sternen!« flüsterte Rivkah, »wie kann ein
kleines Kind schon soviel Bosheit in sich haben?«
Aschure aber setzte eine ausdruckslose Miene auf, um
sich nichts von ihren Gefühlen anmerken zu lassen.
»Drachenstern, jetzt hört mir genau zu.«
Er schwieg, aber nicht aus Angst, ganz im Gegenteil.
Alle konnten mit ansehen, wie die Herzensqualen seiner
Mutter ihn belustigten.
»Ich muß Eure Schandtaten bestrafen. Ihr habt Kassna,
die Euch doch immer nur Gutes wollte, auf abstoßende
Weise benutzt und ihre Freundlichkeit und Liebe verhöhnt. Und dies alles, um Euren eigenen Bruder entführen zu lassen. Womöglich hattet Ihr auch seine Ermordung eingeplant. Dabei wußtet Ihr sehr genau, wie sehr
Caelums Tod Axis und mich schmerzen würde. Nein,
hört mir weiter zu, denn ich bin noch nicht fertig.«
»Nichts, was Ihr anstellt, kann mir wirklichen Schaden
zufügen«, verspottete er sie. »Dazu gebricht es Euch an
Mut. Und an Willensstärke. Euer Pech, daß Ihr meine
Mutter seid.«
»Offensichtlich unterschätzt Ihr mich. Drachenstern,
ich stelle Euch jetzt einige Fragen, und die werdet Ihr mir
wahrheitsgemäß beantworten: Woher bezieht Ihr Eure
Zaubermacht?«
»Nun, von den Gestirnen, vom Sternentanz«, antwortete der Säugling, und alle merkten ihm an, wie sehr ihn
dieser plötzliche Wandel in Aschures Vorgehen verwirrte.
»Ja, Ihr bekommt sie von den Sternen. Und wer hat
Euch die Fähigkeit dazu verliehen?«
»Das waren meine Eltern, Ihr und Axis.« Er schien
nicht zu wissen, worauf die Jägerin hinauswollte.
»Ganz recht, von Axis und mir. Drachenstern, dann
wollen wir etwas genauer werden: Ihr erhaltet Eure Kräfte von dem
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