Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
ausgesetzt.
»Nun sammelt die Kleider, Decken und Tücher ein,
und stellt Euch zu den anderen.«
Kassna sah sich entsetzt um. Wollte denn niemand
dem Kind beistehen? Ihr Blick wanderte vorsichtig zu
Aschure. Was hatte die Zauberin mit ihrem zweiten Sohn
vor? Mordlust stand in ihren Augen!
»Aschure«, begann die Nor noch einmal in höchster
Not. »Wollt Ihr Eurem Kind etwas antun? Er ist doch
noch so klein und …«
»Maßt Euch niemals an, mir Vorschriften machen zu
wollen!« fauchte die Zauberin und trat einen Schritt auf
sie zu. »Euer viel zu großes weiches Herz, dem kein
gleichwertiger Verstand mitgegeben wurde, bildete den
geeigneten Nährboden für die Ränke von jemandem mit
so bösen Absichten wie Drachenstern. Und nun stellt
Euch endlich zu den anderen!«
Ohne weiteres Wort gesellte Kassna sich rasch zu
Rivkah, und diese ergriff wie zum Trost ihre Hand.
Aschure atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie
hielt Caelum sanft im Arm, dessen Blick nicht von seinem jüngeren Bruder wich.
»Für das, was ich heute vollbringen werde«, erklärte
die Zauberin, »benötige ich Zeugen. Damit Ihr alles begreift, müßt Ihr jedes Wort vernehmen, das gesprochen
wird.«
Sie sah die beiden Ikarier an, und die nickten leicht,
weil sie jetzt genau wußten, was Aschure von ihnen verlangte.
»Ikarische Kinder kommen mit einem Verstand zur
Welt, der so scharf ist wie der eines Erwachsenen«, erklärte die Jägerin nun den anwesenden Menschen, die bis
auf Rivkah über fast keine Erfahrungen mit der Art der
Vogelmenschen verfügten. »Drachensterns Verstand ist
sogar noch ausgebildeter, weil es sich bei ihm um einen
Zauberer handelt. Er vermag nicht nur zu denken, sondern sich auch mit seiner Gedankenstimme an andere zu
wenden …«
Aschure schwieg, um dann fortzufahren: »Ich möchte
nun, daß Ihr alle vernehmt, wie es um die Gedanken von
diesem kleinen Burschen bestellt ist; denn nur so können
keine Mißverständnisse entstehen.« Damit wandte sie
sich an die beiden Zauberer. »Meine Freunde, Axis sagte
mir einmal, daß es ein Zauberlied gebe, mit dem die Gedankenstimme auch für menschliche Ohren hörbar gemacht werden könne.«
»Ja, Herrin«, bestätigte der eine von ihnen mit sehr
ernster Miene. »Mein Gefährte und ich vermögen zu bewirken, daß alle Gedanken für jeden hörbar werden.«
»Vortrefflich. Dann beginnt damit.«
Leise Musik erfüllte nun die Luft. Binnen einiger
Herzschläge verstummte sie wieder. Doch diejenigen von
ikarischem Blut konnten die Macht dieser Musik weiterhin spüren.
»Hure!« ließ sich gleich darauf Drachensterns Stimme
deutlich und klar vernehmen. »Ständig und bereitwillig
bietet Ihr Euren Körper dem Manne dar, der Euch so übel
mitgespielt hat.«
Alle zuckten zusammen. Kassna konnte es nicht fassen, daß diese machtvolle Stimme und erst recht solche
Worte von dem lieben Kleinen dort auf dem Tisch stammen sollten. Sicher führte die Zauberin ihnen hier nur
Blendwerk vor. Welcher Säugling könnte schon zu so
viel Bösartigkeit fähig sein?
»Ich würde darin ein Kompliment erkennen«, entgegnete die Zauberin ganz ruhig, »wenn ich Gewißheit besäße, daß hinter diesen harten Worten ehrliche Sorge um
mich läge.«
»Ihr habt einen Sohn wie mich ja gar nicht verdient!«
»Auch da können wir beide nicht mehr einer Meinung
sein.«
»Ich sollte der Erbe sein, und nicht der da!«
Aschure schwieg. Sollte Drachenstern sich doch selbst
in seiner Schlechtigkeit offenbaren.
»Ich bin der mächtigere von uns und habe das Erbe
darum auch mehr verdient. Mir stehen der Ruhm und die
Ehren des Nachfolgers des Sternenmanns zu!« Der Kleine schwieg für einen Moment, aber sein Haß und sein
Neid verbreiteten sich weiterhin oben auf dem Turm.
»Der Same für Caelum wurde in süßes, jungfräuliches
Fleisch eingepflanzt. Und ich? Ich mußte in einen Körper
eingesät werden, der vom zu häufigen Gebrauch schon
ganz abgenutzt war.«
Vollkommen abgestoßen von den widerwärtigen Worten ihres zweiten Sohnes wandte Aschure sich an Kassna:
»Begreift Ihr nun, warum Axis und ich nicht zulassen
wollten, daß Drachenstern sich in der Nähe Caelums aufhielt?«
Die Nor konnte nur nicken, aber das Entsetzen in ihrer
Miene sprach Bände.
»Blöde Kuh«, schleuderte Drachenstern ihr mit überheblicher Miene entgegen, und Kassna brach in Tränen aus.
Aschure wandte sich wieder dem Bösewicht zu. Kein
Wunder, daß ihre Schwangerschaft mit dem Zwillingen
so beschwerlich gewesen war,
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