Die Grabräuber
Schreie. Aber die Grabräuber standen noch. Sie durfte ich auf keinen Fall unterschätzen. Zwar hatten sie noch keinen Befehl bekommen, das konnte sich jedoch ändern. Deshalb suchte ich zunächst nach einer Deckung.
Das Ruderhaus aus hartem festen Holz eignete sich dafür am besten. Ich huschte hin.
Noch auf dem Weg hörte ich Hiatus wütendes Greinen. Ich warf einen raschen Blick zurück und bekam mit, wie er sich auf die Beine quälte, seinen Platz an der Reling verließ und auf die Mitte des Schiffs zutaumelte.
In der rechten Schulter steckte der Dolch. Ein langer dunkler Streifen lief aus der Wunde, doch darum kümmerte sich der Mann nicht. Er wollte seine Aufgabe erfüllen und heizte die Grabräuber an.
»Schießt! Tötet! Tötet ihn!«
Für mich waren diese Worte das Zeichen, so rasch wie möglich Deckung zu suchen. Mit einem letzten gewaltigen Sprung erreichte ich das Oberdeck und hechtete dort flach zu Boden.
Siiinnnn…
Jetzt hörte ich wieder das bekannte Geräusch. Pfeile verließen die Sehnen, doch ich war für sie zu schnell gewesen, lag zudem am Boden, so dass sie fehlten und zum Glück auch keine Menschen trafen, sondern in die Aufbauten sowie die Planken hieben.
Doch einen erwischten sie. Hiatu!
In der Aufregung, dem Hass und der Panik war er zu weit vorgelaufen und hatte den Überblick verloren. Vielleicht hätte er den Befehl später geben sollen, so aber taumelte er genau in die Schussrichtung der Pfeile hinein und wurde erwischt. Zweimal!
Ich sah, wie ihn die Schläge durchschüttelten. Er führte einen grotesken Tanz auf den Planken auf, brach zusammen, sein Schreien verstummte, und es begann der grausame Prozess der Versteinerung. Ich hatte mich auf den Bauch gedreht, so bekam ich das Schreckliche mit. Hiatu hatte Wind gesät, jetzt erntete er den Sturm. In seiner knienden Haltung veränderte er sich und wurde zu Stein. Die Grabräuber aber legten neue Pfeile auf die Sehnen und zogen sie bis zum Anschlag zurück. Sie hatten den Befehl des Tötens einmal erhalten und würden weitermachen.
Dabei schritten sie vor, denn noch immer war ich ihr Ziel. Wieder vernahm ich Schreie. Und ein Klatschen. Beides drang dumpf aus dem Bauch des Schiffes. Ohne es genau zu sehen, wusste ich Bescheid.
Suko vernichtete seinen unheimlichen Ahnherrn endgültig. Und er nahm die Dämonenpeitsche, diese Waffe, die sich nicht um Mythologien scherte und immer einsatzbereit war.
Siinnnn…
Das Geräusch ging fast in den klatschenden Schlägen unter, aber die Pfeile erreichten mich nicht mehr. Sie flogen überall hin. Kraftlos abgeschossen, taumelten sie in den dunklen Himmel. Ich riskierte es und hockte mich hin. Ein gespenstischer Vorgang, vom Licht der einsamen Bordlaterne notdürftig erhellt, lief vor meinen Augen ab.
Die Steinsoldaten oder Grabräuber vergingen. Wo sie standen, lösten sie sich auf. In ihren Gelenken knirschte und knackte es. Staub rieselte aus fingerbreiten Bruchstellen, während ganze Stücke abfielen. Auch die Haut war längst zu Staub geworden. Sie vermischte sich mit dem feinen Lehm der getrockneten Erde.
Ich verließ das Oberdeck der Dschunke. Für mich bestand keine Gefahr mehr. Dabei schaute ich auf die Reste.
Hier und da ragte noch ein Arm hervor. Oder eine Hand, die wie im letzten Krampf einen Bogen umklammerte, doch beides war bald verschwunden.
»John?« Suko fragte nach mir.
Ich trat an den Rand der Luke und leuchtete mit meiner kleinen Lampe.
»Hilfst du mir hoch?«
»Und dein Ahnherr?«
Suko drehte den Daumen und stach ihn nach links dem Boden entgegen. Ich drehte die Lampe ein wenig.
Der Staub schimmerte in dem feinen blassen Strahl. Die Reste des einst so mächtigen Mandarin La-Kau…
***
Die Menschen auf dem Schiff feierten uns wie Befreier. Wenig später wurde die Dschunke von einem gleißenden Scheinwerferlicht überflutet. Wir hörten Schiffsmotoren, und schon bald legten zwei Patrouillenboote längsseits an.
Männer stürmten das Deck. An der Spitze Quen.
Suko und ich empfingen ihn grinsend. »Wenn Sie kommen, mein Lieber«, sagte ich, »ist alles vorbei.«
»Wirklich?«
Suko bestätigte meine Worte durch ein mehrmaliges Nicken. Das konnte Quen nicht begreifen. Noch am nächsten Tag, als er uns wieder einmal zum Flughafen brachte, dachte er darüber nach. Dass ihm so etwas im total überwachten China hatte passieren können, war ihm unbegreiflich. Und Suko meinte zum Abschied: »Nobody is perfect…«
Quen widersprach diesmal nicht…
ENDE
[1] Siehe
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