Die Grabstein-Clique
darüber reden. Nicht, daß sie etwas gegen ihre Mitschwestern gehabt hätte, aber von ihnen konnte keine ihren Zustand begreifen, und sie begriff ihn selbst nicht.
Es war zu ungewöhnlich, und es war über sie gekommen wie ein harter Schlag. Clara wußte, daß sich von nun an ihr Leben verändert hatte. Es würde nicht mehr in denselben Bahnen ablaufen, wie es schon einmal passiert war. Da war eine Kraft in sie hineingefahren, die für diese radikale Veränderung gesorgt hatte.
Oder war die Kraft schon immer in ihr gewesen? Hatte sie tief in ihrer Psyche gelauert, und hatte es nur eines gewissen Anstoßes bedurft, um sie hervorkommen zu lassen?
Auch die Kapelle lag in einer gewissen Düsternis. Sie kam Clara vor wie ein übergroßes Grab.
Hinter und neben Clara murmelten ihre Mitschwestern die Gebete. Das ständige Murmeln überkam Clara wie ein Rausch. Aus den zahlreichen Stimmern und Worten bildeten sich Wellen, die gegen die Innenmauern der Kapelle brandeten und dafür sorgten, daß sie sich bewegten wie große Wogen. So jedenfalls dachte Clara Montero, wenn sie hinschaute. Ein Schauer rann über ihren Rücken. Kalt und breit. Als wäre sie von den Fingernägeln einer Teufelshand gestreift worden. Wie ein Blitzstrahl zuckte es durch ihr Hirn. Sie dachte wieder an die Schatten.
War es der Teufel gewesen? Hatte er sich verkleidet? Oder hing alles mit dem Foto zusammen?
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, weil die Nachbarin sie anstieß. Alle anderen Nonnen hatten sich erhoben, nur Clara war noch auf den Knien geblieben.
Auch sie stand jetzt hastig auf.
Vor ihr stand die Schwester Oberin. Die Frau schien nur Augen für Clara zu haben. Hart schaute sie ihr ins Gesicht. Die Gestalt der Oberin bewegte sich nicht. Sie schien versteinert zu sein, ihr Blick war eisig, das Gesicht ein weißer Fleck unter der Haube. Dann zuckte der Schatten über die Züge hinweg.
Blitzartig, konturenlos.
Clara erschrak.
Sie kannte den Schatten ja. Zweimal hatte sie ihn gesehen. Sie schwankte wieder. Das Gefühl der Angst verstärkte sich noch mehr und preßte ihre Brust zusammen.
Sie konnte selbst nicht sagen, wie sie es geschafft hatte, die Messe durchzustehen. Sie tat alles automatisch, es war ihr in all der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen, und dann wollte sie einfach nur weg. Die Kapelle so schnell wie möglich verlassen. Keinen mehr sehen, mit keinem reden, sich zurückziehen und…
»Clara?«
Sie hob den Kopf. Die Stimme hatte sie längst erkannt. Die Äbtissin hatte sie angesprochen. Beide Frauen schauten sich an.
»Clara, ich weiß, daß es dir nicht gutgeht. Ich möchte, daß du zu mir kommst.«
Clara nickte und fragte trotzdem. »Jetzt sofort?«
»Ja, noch vor dem Frühstück. Du kannst auch eine Tasse Kaffee bei mir trinken. Sie wird dir guttun.«
»Vielleicht.«
»Dann komm, bitte.« Die Äbtissin umfaßte ihren Arm und zog sie einfach mit.
Clara kam sich wie ein Kind vor, das von der Mutter weggebracht wurde. Natürlich blieb ihr Abgang nicht unbemerkt. Einige Mitschwestern bedachten sie mit mitleidigen Blicken. Sie kannten das Spiel. Wen die Äbtissin so anfaßte, um eine gewisse Macht zu dokumentieren, der hatte oft genug eine Strafpredigt zu erwarten.
Sie brauchten nicht sehr weit zu gehen und betraten das Büro der Klostervorsteherin, wo sie auch ihre Besucher empfing. Es war spartanisch eingerichtet. Der Oberin kam es auf den Zweck an und nicht auf das Design. Durch das große Fenster fanden die Strahlen der Sonne ihren Weg und leuchteten den Raum aus. Ein großes Kreuz hing hinter dem Schreibtisch an der Wand. Es war beherrschend, und so sollte es auch sein.
Clara mied den Blick auf das Kreuz. Sie schaute dafür zu Boden und tat so, als müsse sie überlegen.
»Setz dich doch, meine Tochter…«
»Gleich, Schwester Oberin, gleich…«
»Ich koche uns erst einmal einen Kaffee.«
»Ja.«
Clara Montero stand am Fenster. Sie hörte die Frau gehen. Auf dem Steinboden hatten ihre Schritte helle Echos hinterlassen, die Clara sehr genau verfolgte.
Die kleine Kaffeemaschine stand auf einer Anrichte. Erst als die Schritte der Oberin verstummten, drehte sich die junge Nonne wieder um. Ihre Vorgesetzte stand in gebückter Haltung vor der Maschine und öffnete die Dose, die Kaffee enthielt.
Sie ging vor.
Sie spürte den Drang.
Sie merkte den Haß.
Und sie sah die Schere.
Harmlos lag sie auf dem Schreibtisch, denn sie wurde von der Oberin auch als Brieföffner benutzt.
Über der Schere tanzte
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