Die Graefin Charny
Doktor, nein, ich sehe wohl, daß ich verloren bin!« sagte die Königin. »Diese Revolution ist ein Abgrund, in welchen der Thron stürzen muß; das Volk ist ein Löwe, der mich verschlingen wird!«
»Eure Majestät,« erwiderte Gilbert, »es hängt nur von Ihnen ab, diesen gereizten Löwen zu zähmen ...«
»Doktor, ich habe mit diesem Volke auf immer gebrochen ... Es haßt mich, ich verachte es.«
»Eure Majestät täuschen sich«, erwiderte Gilbert. »Das Volk lehnt sich nicht auf; der König und die Königin treten dem Volk entgegen mit der kalten Losung der Standesrechte und der absoluten Gewalt, während man ringsum nur die Sprache der Brüderlichkeit und Vaterlandsliebe hört. Werfen Sie einen Blick auf eines jener improvisierten Feste, und Sie werden fast immer auf einem Hügel einen Altar sehen, und auf dem Altar ein Kind, das von allen adoptiert, mit Geschenken und Segenswünschen überhäuft wird. Dieses Kind ist das neugeborene Frankreich. Noch ist es Zeit, Eure Majestät: nehmen Sie das Kind vom Altar und werden Sie seine Mutter!«
»Doktor,« antwortete die Königin, »Sie vergessen, daß ich andere Kinder habe; wollte ich Ihrem Rate folgen, so würde ich meine leiblichen Kinder zugunsten eines fremden enterben.«
»Wenn dem so ist,« erwiderte Gilbert mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes, »dann hüllen Sie diese Kinder in Ihren Kriegsmantel und verlassen Frankreich mit ihnen. Eure Majestät haben recht, das Volk wird Sie verschlingen, und Ihre Kinder mit Ihnen ... aber es ist keine Zeit zu verlieren.«
»Und Sie werden der Abreise kein Hindernis in den Weg legen, Herr Gilbert?«
»Keineswegs.«
»Das trifft sich ja herrlich«, sagte die Königin; »denn ein Edelmann hat sich bereit erklärt, zu handeln.«
»Wie!« sagte Gilbert erschrocken, »Eure Majestät meinen doch nicht den Marquis von Favras? Ich muß Eure Majestät warnen; auch den Marquis verfolgt eine unheilvolle Prophezeiung von demselben Propheten.«
»Und welches Schicksal prophezeit er dem Marquis?«
»Einen frühen, schrecklichen, schmachvollen Tod, wie jener, von welchem soeben die Rede war.«
»Nun, dann hatten Sie recht, es ist keine Zeit zu verlieren, um den Unglückspropheten Lügen zu strafen.«
»Eure Majestät sind also entschlossen, die Hilfe des Marquis von Favras anzunehmen?«
»Ich habe schon zu ihm geschickt, Herr Gilbert, und erwarte seine Antwort.«
In diesem Augenblick trat der Baron von Charny ein und sagte:
»Der Marquis von Favras ist vor einer Stunde verhaftet und in das Châtelet-Gefängnis gebracht worden.«
Aus den Augen der Königin schoß ein leuchtender Blitz, aber in dieser Aufwallung des Zornes schien sich ihre ganze Kraft zu erschöpfen, sie sank ermattet in einen Sessel.
14. Kapitel
Am Tage nach der Verhaftung des Marquis von Favras machte folgendes Schreiben die Runde durch ganz Paris:
»Der Marquis von Favras ist mit seiner Frau in der Nacht vom 24. zum 25. verhaftet worden, weil er den Anschlag geplant hatte, dreißigtausend Mann aufzuwiegeln, um den General Lafayette und den Bürgermeister von Paris ermorden zu lassen, und uns sodann die Zufuhr von Lebensmitteln abzuschneiden.
Monsieur, der Bruder des Königs, steht an der Spitze der Verschwörung.«
Dieses Schreiben erregte ungeheures Aufsehn.
Am 26. abends waren die Abgeordneten im Stadthause versammelt, und während der Bericht des Untersuchungskomitees vorgelesen wurde, meldete der Türsteher, Monsieur wünsche vorgelassen zu werden.
Die Stadtverordneten sahen einander an. Der Name Monsieur war seit gestern in jedermanns Munde.
Bailly warf einen fragenden Blick auf die Versammlung, und da er in den Augen aller die gleiche Antwort zu lesen schien, sagte er:
»Sagen Sie Seiner Hoheit, daß wir bereit sind, Monsieur zu empfangen.«
Einige Sekunden später trat Monsieur ein.
Er war allein; sein Gesicht war blaß, und sein ohnehin etwas unsicherer Gang war noch wankender als gewöhnlich.
Er warf einen noch schüchternen Blick auf die zahlreiche Versammlung und begann:
»Meine Herren, der Wunsch, eine Verleumdung zu widerlegen, führt mich in Ihre Mitte. Der Marquis von Favras ist vorgestern verhaftet worden, und heute streut man absichtlich das Gerücht aus, ich hätte mit ihm in Verbindung gestanden ... Im Jahre 1772 trat der Marquis in meine Schweizergarde; 1775 schied er wieder aus. Seit jener Zeit habe ich nie ein Wort mit ihm gesprochen ...«
Ein Gemurmel erhob sich; aber ein Blick Baillys stellte die Ruhe wieder
Weitere Kostenlose Bücher